19. Oktober 2022

IQB Bildungstrend und was wir daraus machen könnten - eine Vision

Die Ergebnisse aus dem IQB Bildungstrend liegen nun vor und werden wild durch die Presse und die Fachwelt gejagt. Auch die Hänse vom Philologenverband müssen sich natürlich äußern. Auf Twitter geht es munter hin und her und rauf und runter. Mich schüttelt es. Ich fürchte mich beinahe vor der Zukunft. Und zwar ganz klar nicht wegen der Ergebnisse aus dem Bildungstrend sondern wegen des unmöglichen Umganges damit. Es gibt wohl Stimmen, die nun nach mehr qualifiziertem Lehrpersonal rufen. Oder nach dem Rücktritt von Frau Prien, den ich ganz nebenbei sehr befürworten würde, wenn ich nicht wüsste, dass danach eine möglicherweise noch schlimmere Pfeife an den Start gehen würde. Doch wirklich kritische Stimmen sind eher selten.

Richtig ist: das Problem steckt im System. Es ist systemisch. Lehrerinnen und Lehrer sind ganz klar in eine Richtung fixiert: Lesekompetenz, gute Prüfungsergebnisse, Mathekompetenz, gute Prüfungsergebnisse. Und wollen in diese Richtung weiter laufen. Auch die Mehrzahl der Eltern ist der Ansicht, dass die Kinder in der Schule vor allem sehr gute Noten in Mathe, Deutsch und Englisch haben sollen. Wegen der Karriere - versteht sich. Aber genau diese Idee ist der Fehler! Diese Idee ist vollkommen unbrauchbar. Denn sie berücksichtigt mehrere Faktoren nicht. Zum einen die Kinder selbst. Ein Kind ist ein lebendiger Organismus, der aus sich heraus lernen will. Er will oder kann aber nicht zwangsläufig die Sachen lernen, die gerade im Lehrbuch auf der aktuellen Seite stehen. Lehrerinnen und Lehrer beklagen sich, dass Schüler nicht still sitzen wollen. Wir müssen den Kindern so dankbar sein, dass sie sich durch Unruhe gegen die Fehlbehandlung im Klassenzimmer wehren. Das ist unsere Chance. Fragen wir doch einfach die Kinder: Was wollt ihr lernen? Wie wollt ihr lernen? - So mal als Idee.

Der zweite große Fehler ist folgender: Computer können sehr viel schneller und besser rechnen als Menschen. Das wissen natürlich auch Kinder. Computer können mittlerweile halbwegs verständlich Texte vom Deutschen ins Englische übersetzen. Computer können Rechtschreibkorrektur. In den Schulen wird aber zumeist immer noch gelehrt wie im 16. Jahrhundert. Genau - dann kommen die Rufe nach Digitalisierung. Nein, die Prozesse aus dem 16. Jahrhundert lassen sich nicht digitalisieren. Und pseudodigitalisierte Lernsysteme sind nicht besser, weil sie digitalisiert sind. Wir müssen neue Lernformate entwickeln. Gemeinsam mit den Kindern. Es geht nicht anders. Die Zukunft erfordert nämlich genau dieses von den Kindern: sie werden sich auf verändernde Bedingungen und Aufgaben einstellen müssen. Das 16. Jahrhundert ist vorbei!

Es ist ein Protest der Kinder mit den Füßen. Wenn uns Protest mit den Füßen nichts angeht, dann finden wir den gut. In autoritären Systemen zum Beispiel. Wenn uns Protest mit den Füßen etwas angeht, dann ist er plötzlich schlecht. Kinder müssen gefälligst still sitzen und selbst der große John Hattie hat gesagt, dass Frontalunterricht ja so schlimm nicht ist. Also beschämen und bedrohen wir sie ruhig weiter. Es gibt sogar Stimmen, die die Prügelstrafe auch gar nicht so schlimm finden und sagen "hat uns ja auch nicht geschadet!". Noten jedenfalls müssen sein, auch wenn sie erwiesenermaßen ungerecht sind. Aber als Druckmittel, da brauchen wir sie selbstverständlich. Leider ist diese Idee weder mit den Erkenntnissen der Lernforschung vereinbar noch mit der UN Kinderrechtskonvention noch mit den Landesschulverordnungen. Auch die Idee, alle sogenannten auffälligen Kinder doch gefälligst aus den Klassenzimmern zu verbannen ist weder konstruktiv noch gesetzeskonform.

Alle konservativen Bildungsbeeinflussser sind auf dem Holzweg. Das autoritäre System hat ausgedient. Einfach nur auf Regeln zu beharren, weil Schule autoritär sein muss, ist nicht nur sinnlos. Es ist kontraproduktiv. Denn es produziert nur Verlierer an allen Ecken und Enden. Lehrerinnen und Lehrer sind Verlierer, Schülerinnen und Schüler sind Verlierer und die Gesellschaft verschenkt massiv an Individualität, an Mentalkraft und an Kreativität. Ein Philologenverband kann sich nicht einmal mit einem "mangelhaft" schmücken. Eigentlich ist "ungenügend" noch eher eine hohe Auszeichnung für das, was diese Leute von sich geben. Das gleiche gilt für die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die Kultusminister der Länder und für viele weitere Persönlichkeiten, die die deutsche Bildungslandschaft nicht nur maßgeblich prägen sondern auch verantworten. Wer heute noch der Ansicht ist, dass das bestehende System doch so schlecht gar nicht sei, hat vor allem eines: Wahrnehmungsstörungen oder ist mindestens vollkommen ahnungslos. Ein Tipp: geht mal auf deutsche Schultoiletten. Es sind die Räume, die vielleicht am besten wiedergeben, wie es um das deutsche Bildungssystem bestellt ist. Das ist nicht ungenügend, das ist beschissen - im wahrsten Sinne des Wortes.

Jetzt ganz praktisch. Wie soll das gehen? Zunächst einmal ist klar: wir müssen Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Berufsalltag entlasten und unterstützen. Das geht einfach. Es gibt keine Vertretungsstunden mehr. Vertretungsstunden werden abgeschafft. Denn Vertretungsstunden sind ein Übel. Auch für die Kinder. Sehr viel mehr jedoch für die Lehrer. Denn der Mangel wird einfach nur umverteilt. Von einer leeren Tasche in die andere. Und der nächste Lehrer fällt aus. Also: wenn ein Lehrer nicht da ist, dann dürfen die Kinder entweder zuhause bleiben oder sie dürfen sich selbst beschäftigen. Dazu werden sie befähigt. Es gibt hierzu extra Unterrichtsstunden, in denen sie lernen sich selbst zu beschäftigen. Ich höre jetzt großes Geschrei von wegen Aufsichtspflicht und "geht nicht" und "Katastrophe". Nein. Es ist ist keine Katastrophe. Haben wir einfach ein bisschen Mut, probieren wir es einfach aus. Und das mit der Aufsichtspflicht lässt sich auch regeln. Die Klassenraumtür bleibt offen und die der anderen Klassen, in denen Lehrer unterrichten bleiben auch offen. Aufsichtspflicht geregelt. Dass sie nichts lernen, stimmt mindestens doppelt nicht. Sie lernen Selbstverantwortung in der Gruppe. Einer der wichtigsten Skills im Leben überhaupt. Und sie lernen "lernen lernen", also sich selbst etwas beizubringen. Noch so ein Skill, der ihnen das ganze Leben hilft und wertvoller ist als alle über noch so ausgefeilte IQB Methoden erhobenen Punkte.

Beim Personalmangel geht der Hohn ja in die nächste Runde. Momentan versuchen die Länder sich gegenseitig Lehrer abzuwerben. Dabei ist kein Mittel zu billig, als dass es nicht angewendet würde. Von Bonuszahlungen bis Headhunter reichen die skurrilen Methoden der Länderverantwortlichen. Der Steuerzahler bezahlt den Wahnsinn wieder doppelt. Einerseits für fehlende Lehrer auf der einen Seite, auf der anderen Seite für den Betrieb des Personalkarussels.

Es müssen also andere Wege gefunden werden, um dem Personalmangel abzuhelfen, der nun defacto an den Schulen besteht. Auch der lässt sich lösen. Es gibt genügend Menschen, die für den Lehrerberuf geeignet sind. Die Klassen werden für Hospitation geöffnet. Nach einer Bewerbung bei der Schulleitung darf jeder Mensch bei hierfür klassifizierten Lehrern hospitieren und "mithelfen". Wie werden Lehrer klassifiziert? Ganz einfach durch Wahl. Die Schüler dürfen diejenigen Lehrer wählen, die ihrer Ansicht nach guten Unterricht machen. So können fachfremde Menschen ganz einfach in den Beruf hinein wachsen. Sie können erfahrene Lehrkräfte erleben, ihnen über die Schulter schauen. Auch der Erwachsene kann durch Vorbilder lernen. Dann kann er auch mal eine Stunde abhalten und der erfahrene Kollege schaut sich das an. Die Kinder schauen sich das an. Bereits nach wenigen Monaten kann der Lehrerlehrling produktiv im Schulalltag mitarbeiten und stellt eine spürbare Entlastung dar. Nach drei bis fünf Jahren kann er eine Prüfung ablegen und wird den anderen Lehrkräften gleichgestellt. Wieder höre ich "unmöglich!" und "geht gar nicht!" - ja, so ist Revolution eben: ein großes Geschrei. Ich scheue mich nicht davor.

Weshalb wäre das eine Revolution? Das alte verkrustete System hat ausgelebt. Das zeigt die IQB Studie, das zeigen viele Kommentar um die Studie. Es verursacht Burnoutlehrer und Burnoutschüler. Die Praxen der Jugendpsychiater sind überlastet. Nun lassen wir Menschen in die Schule, die einen anderen Blick, vielleicht eine andere Vision, einen anderen Erfahrungshintergrund haben. Sie ersetzen nicht die bisherigen erfahrenen Kräfte. Sie ergänzen sie. Im Team haben so alle Beteiligten die Möglichkeit ihre Fähigkeiten zu erweitern. Betriebsblindheit gibt es nicht nur in der Schule. Es ist ein verbreitetes Phänomen, wenn einem System nicht genügend neue Impulse zugeführt werden können. Im Schulsystem ist dies jedoch besonders stark spürbar.

Die Richtung wird maßgeblich von den Schülern mitbestimmt. Denn nur jene Lehrer dürfen Vorbilder sein, die von den Schülern als solche akzeptiert sind. Das klingt erstmal brutal. Ja, (R)Evolution ist brutal. Aber es wird Zeit, dass Schülerinnen und Schüler über ihr Schicksal mitbestimmen können und müssen. Nur so lernen sie Verantwortung. Nicht minder brutal ist der bisherige Weg, bei dem Schülerinnen und Schüler quasi hilflos den Machenschaften der Bildungsbürokratie und überforderter Pädagogen ausgeliefert sind. Denn seien wir mal ehrlich: faktisch haben Schülerinnen und Schüler nicht wirklich die Möglichkeit sich gegen Fehlbehandlung zu wehren.

Wir müssen die Schulen ausrichten nach den Erfordernissen der Gesellschaft. Die Erfordernisse der Gesellschaft sind, dass wir weniger abgehängte Menschen haben müssen. Das geht nur dadurch, dass wir unsere Sicht auf die Gesellschaft grundlegend ändern. Die Erfolgsgesellschaft hat ausgelebt. Wir brauchen die Erfolgsgesellschaft, in der alle Erfolg haben. Das geht nur durch einen veränderten Blick, indem wir das Potential entdecken und entwickeln, das in den Menschen steckt. Auch in den Lehrkräften. Lehrkräfte müssen wieder kreativ sein dürfen und Freude an ihrer Arbeit haben.

Noch was ist mir eingefallen. Nicht wahr, es gibt die sogenannten Wunderkinder. Die hochbegabten Kinder. Die Talente. Die wollen wir ja. Aber wie werden Wunderkinder und Talente gemacht? Wunderkinder und Talente werden nur und ausschließlich so gemacht, indem ihnen die optimalen Umstände angeboten werden, unter denen sie ihre individuellen Fähigkeiten und Neigungen entwickeln können. Die Betonung ist dabei auf individuell. Nun wissen wir, dass jedes Kind, jeder Mensch individuelle Fähigkeiten und Neigungen hat. Bieten wir ihnen doch einfach optimale individuelle Umstände an.

Schule geht besser! Wir brauchen nur etwas Mut.