4. Mai 2022

Ich lese: Schülerjahre von Remo Largo und Martin Beglinger

Das Buch habe ich schon lange im Regal stehen. Aber wozu sollst Du ein Buch über Schülerjahre lesen, wenn die Kinder in den Kindergarten gehen? Warum sollst Du ein Buch über Schülerjahre lesen, wenn es keine Probleme in der Schule gibt?

Ich muss mich revidieren. Das Buch - wie jedes andere Buch von Remo Largo, wie jede andere Ausführung von Remo Largo - ist eine Sensation. Von vorne bis hinten. Das muss ich kurz erklären. Zunächst war ich etwas abgeschreckt wegen der Form, in der es geschrieben ist. Weshalb soll ein Buch in kurze Abschnitte geteilt sein, die von einem anderen Autor überschrieben sind? Das war meine Frage. Aber genau das macht das Buch aus. Es ist ein Dialog unter ausgewiesenen Experten. Mir ist bislang niemand anderes bekannt, der die Frage der kindlichen und menschheitlichen Entwicklung so minutiös wissenschaftlich und gleichzeitig empirisch und ganzheitlich untersucht hat wie Remo Largo. Mir ist niemand anderes bekannt, der mit dieser Detailverliebtheit Zusammenhänge herstellen und erklären kann.

So ist jeder Abschnitt ein Feuerwerk emotionaler Intelligenz ohne Firlefanz. Gestern las ich ...

Und was machen die Eltern mit dem Druck, den die Schule auf ihr Kind ausübt?

Viele Eltern leiden mit, wenn ihr Kind unter Schulstress gerät. Nicht wenige sind wütend auf die Schule, weil sie sich so ohnmächtig fühlen: Das Kind ist ihrem Einfluss entzogen und der Schule ausgeliefert. »Wie können wir die Schule für unser armes Kind erträglicher machen?« Diese Frage haben mir Hunderte von Eltern immer wieder gestellt. Die bittere Wahrheit ist: Die Schule lässt sich kurzfristig nicht ändern. Die Eltern müssen mit den Lehrern und anderen Fachpersonen wie Heilpädagogen und Schulpsychologen ins Gespräch kommen und sich so gut wie möglich für das Kind einsetzen. Was nichts bringt, ist Polemik gegen die Schule. In auswegslosen Situationen sollte ein Lehrer- oder Schulwechsel angestrebt werden. Das Wichtigste aber ist, dass die Eltern sich konsequent auf die Seite des Kindes stellen und ihm das Gefühl geben: Du bist gut so, wie du bist. Wir wissen, dass du dich so gut wie möglich bemühst. Wir lassen dich unter keinen Umständen im Stich.

Das sind handfeste Verhaltenstipps, die die eigenen Verzweiflung etwas mindern können. Das Buch ist voll davon und eine Fundgrube für Pädagogen, Schulleiter und Eltern. Auf jeden Fall lesen! Wer ein Exemplar haben möchte und es sich nicht selbst kaufen kann, schreibt mir bitte - ich schicke es dann zu.

Und andererseits fragt man sich schon: da steht das Wissen schwarz auf weiß einfach zur Verfügung. Mit reicher Quellenangabe. Keine Esoterik. Keine Religion. Einfach nur schlichte Handwerkskunst der Wissenschaft. Und es wird nicht genutzt.

Wir machen weiter. Am Montag ist eine längere E-Mail an die Unterrektorin der Schule raus. Ich habe drei Tage daran geschrieben und versucht mich kurz zu fassen.

Ein Ausschnitt davon:

... Unser einziger Wunsch ist, dass alle Kinder in der Klasse würdevoll und mit Achtung behandelt werden und ihren Möglichkeiten und Wünschen entsprechend unterrichtet werden. Dass dies durchaus möglich ist, zeigen einzelne Fachlehrer. Ich darf Herrn L. als Beispiel erwähnen. Die Kinder haben zwar nur eine halbe Stunde pro Woche bei Herrn L. Er versteht es aber, die Individualität der Kinder zu achten und zu fördern. Es gibt aber nach wie vor viele Kollegen, die Fächer unterrichten statt Kinder. So ist der Klassenlehrer der Ansicht, dass sich gefälligst alle Kinder so zu benehmen haben wie ausgebildete Kutschpferde. Er ist der Kutscher und bestimmt den Kurs und die Geschwindigkeit. Wer nicht mitmacht, muss bedroht und bestraft werden. (Sinngemäße Aussage aus dem Elterngespräch). Das ist nicht das, was das Landesschulgesetz vorsieht. Es will zu mündigen Bürgern erziehen, nicht zu autoritätshörigen Mitläufern. Bei der Beobachtung des Weltgeschehens hoffen wir in diesen Tagen inständig, dass autoritäre Regime nicht den Ton in der Welt bestimmen. So sollte es auch im Kleinen gehandhabt werden. Denn woraus besteht die Gesellschaft? Aus vielen Individuen. Lernen diese Individuen kein freiheitliches und verantwortungsvolles Denken und Handeln, keine Sozialkompetenz, kein Selbstbewusstsein, wie soll sich so eine freiheitliche Gesellschaft bilden? Woher kommt die ganze Leerdenkerei, der Hang zu Extremismus usw.? Genau: es ist ein Mangel an Bildung. Es fehlt nicht an Deutschunterricht und auch nicht an Matheunterricht (Frau Weidel hat auch einen Doktortitel und trotzdem Schwierigkeiten mit ethischen Werten und der Wahrheit) oder disziplinatischen Maßnahmen - es ist schlicht ein Mangel an den einfachsten Grundkompetenzen. Das ist auch dasjenige, was Lehrmeister, was in Universitäten, von Berufsverbänden und an anderen Stellen immer wieder bemängelt wird: die Grundkompetenzen fehlen. Die Grundkompetenzen werden nicht durch das Ausfüllen von Arbeitsblättern, Frontalunterricht und Notendruck erlernt. Die Grundkompetenzen erlernt der Mensch im Umgang miteinander. Lehrer sind Vorbilder. Kinder suchen nach Vorbildern.

Am Freitag hat ein anderes Kind aus der Klasse erzählt, dass der Lehrer bei einem Verdacht auf Fehlverhalten eines Kindes im Unterricht den Namen an die Tafel schreibt. Entschuldigen Sie... Ich bin entsetzt. Die Tafel als Pranger. Dazu kommt noch die Ungerechtigkeit. Manche Namen werden an die Tafel geschrieben, nur weil der Lehrer das Kind verdächtigt! Hier wird aus pädagogischer Unfähigkeit Angstdruck bei den Kindern erzeugt. Jeder soll wissen: aufmucken ist zwecklos und wird bestraft.

Eine Antwort habe ich noch nicht bekommen - nicht einmal eine Eingangsbestätigung. So viel zum Umgang miteinander und "... die Eltern müssen mit den Lehrern ... ins Gespräch kommen". Gestern war eine Schulkonferenz. Auch dies eine Kuriosität für sich. Die Elternratsvorsitzende fragt nochmal bei uns nach, was denn auf die Tagesordnung soll. Naja. Die ganze lange Liste eben.

Am Montag soll uns dann der Maßnahmenplan vorgestellt werden.

Nochmal: Eltern, Lehrer, Schulamtsleiter, Schulleiter, Bildungsminister, Frau Oldenburg! Lest Remo Largo "Schülerjahre". Denn Schule geht besser!