4. April 2022
Hochbegabtenförderung - ein ernüchternder Blick ins System
»Mein Kind ist hochbegabt!« - manche Eltern mögen sich darüber freuen, andere vielleicht ganz neidisch auf die Situation blicken. Wer mehr oder weniger betroffen ist oder sich mit der Materie auseinandersetzt, dem wird schnell klar: das Etikett bedeutet genau so viel oder so wenig wie das Etikett »Mein Kind hat ein Handicap!«. Denn: mit diesen Etiketten fliegt jedes Kind sehr schnell an den Rand des Schulsystems. Obwohl sich Deutschland seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 auf den Weg zur Inklusion gemacht hat, sind wir 2022 weiter von einer Bildungsgerechtigkeit entfernt als je zuvor. Was ursprünglich als Grundgedanke für die Teilhabe an Bildung für alle Menschen in armen und ärmsten Ländern gedacht war, erweist sich in Deutschland als schier unmöglich. Einerseits weden Kinder mit einem IQ von 40 von engagierten Eltern an Regelschulen gezwungen, andererseits erleiden Kinder, die keine eindeutige klinische Diagnose vorweisen können, reihenweise Schiffbruch in den Schulen.
Ähnlich sieht es auf der anderen Seite der Norm aus. Ihr merkt, seit einigen Tagen beschäftige ich mich mit Hochbegabung. Mehr oder weniger zwangsläufig. Spaß macht das nicht! Und je mehr ich mich mit dem Thema befasse, desto mehr merke ich, wie irre auch dieses Phänomen gehandhabt wird. Vielleicht nur als Hinweis: besondere Begabungen gab es zu allen Zeiten der Menschheit, vermutlich gibt es die auch im Tierreich. Mir wäre nicht bekannt, ob Johann Sebastian Bach in den Genuss einer staatlich verordneten Hochbegabtenförderung gekommen ist. Mir wäre auch nicht bekannt, ob er bessere Musik hätte machen können, wenn er eine solche bekommen hätte.
Während nun viele Jahrzehnte Schülerinnen und Schüler des unteren Leistungsspektrums einfach abgeschoben werden konnten, waren und werden Kinder des oberen Leistungsspektrums nach wie vor ständigen Repressalien ausgesetzt langweilige Wiederholungsaufgaben zu machen und wurden und werden ständig in ihrem Lernwillen beschnitten. Nun wird ein Haufen Geld ausgegeben und ein riesen Buhei für die Hochbegabtenförderung gemacht. Hochbegabtenförderung gilt als die Kür im deutschen Bildungssystem.
Jetzt wollen wir aber doch genauer hingucken was das eigentlich bedeutet. Also zum einen können natürlich, weil der Aufwand doch recht hoch ist, nur sehr wenige Schulen überhaupt spezielle Angebote für die sogenannten Hochbegabten machen. Des weiteren ist zu berücksichtigen, dass es die Hochbegabung per se überhaupt nicht gibt. Das eine Kind ist mehr kognitiv begabt, das andere mehr musisch, ein drittes motorisch, ein viertes sprachlich und ein fünftes hat ein extremes Faible für Biologie, in anderen Bereichen hat das Kind vielleicht Defizite. Jetzt müssen für jede Art von Begabung spezielle Angebote bereitgestellt werden. Wer es nicht glaubt, folge bitte diesem Link. Mecklenburg - ein Flächenland. Wer also Glück hat, hat täglich einen Schulweg von unter 100 Kilometern zu seinem musischen Hochbegabtengymnasium. Irr.
Aber, um nochmal auf Johann Sebastian Bach zurück zu kommen. Stellt ihn euch einfach vor an einer normalen Schule mit einem pfiffigen Musiklehrer. Ja, es gibt pfiffige Lehrer. Und diesem Lehrer gelingt es ganz einfach alle seine Schüler ihrer Leistung entsprechend zu akzeptieren und zu unterstützen. Er führt vielleicht eine Oper auf. Johann Sebastian bekommt darin die Hauptrolle, das FAS-Kind der Klasse bekommt seine eigene Rolle, vielleicht als Statist. Und jetzt - passt auf - hört nicht auf zu lesen! - Jetzt passiert etwas ganz besonderes. Sowohl der kleine Johann Sebastian wie auch das FAS-Kind und das Kind vom Bürgermeister und das Lehrerkind und alle Kinder dieser Klasse nehmen sich gegenseitig wahr in ihrer Verschiedenartigkeit. Sie nehmen wahr: es gibt Menschen mit unterschiedlichen Begabungen, aber sie machen alle die gleiche Sache, nämlich eine Oper aufzuführen. Sie merken: sie brauchen sich. Denn der kleine Johann Sebastian kann ohne Statisten auch keine ordentliche Oper aufführen. Die hochbegabten Schülerinnen und Schüler des musischen Hochbegabtengymnasiums machen etwas ganz anderes: jeder Schüler führt dort sein Soloprogramm auf. Denn es gibt dort weder Statisten noch einen Chor. Wie armselig!
Zurück zu unserem ganz praktischen Hochbegabtenproblem. Du hast entweder Glück und einen pfiffigen Musiklehrer. Oder, meiner Beobachtung nach in der Mehrzahl der Fälle: du hast einen linientreuen Lehrplanlehrer - und damit die echte Arschkarte.
Gerald Hüther: Wieso die Schulen versagen (yt)
Es kommt noch was weiteres hinzu. Wenn du den Hirnforscher Gerald Hüther gehört hast oder dich sonst irgendwie mit lernen befasst hast, weißt du, dass der Mensch nicht von schlechten Lehrern lernt sondern von Vorbildern. Das Prinzip hat kein Kultusministerium erfunden, sondern es ist evolutionär in allen Wesen vorhanden, die mit Hirnen ausgestattet sind. Wenn jetzt die verschiedenen Begabungstypen voneinander separiert werden, fehlen die Vorbilder. Allen werdenden Wesen werden damit die Vorbilder weggenommen. Mit ebenso fatalen Folgen. In gleichen Lerngruppen gibt es viel weniger Synergieeffekte. Dafür gibt es mehr Konkurrenz. Somit wird in einem separierten System genau das gefördert, was wir gesellschaftlich gar nicht brauchen: emotionsblöde Erfolgstypen. Genau dies haben wir, wie die OECD Studien (und andere Studien) ja immer wieder zeigen: auseinander klaffende und immer weiter auseinander klaffende soziale Schichten.
Zum Glück wissen wir: Schule geht besser!