21. Juli 2024

Buchtipp Nr. 1 für die Sommerferien

Dieses Buch hat eine intelligente Autorin geschrieben.

Damit könnte diese Buchrezension eigentlich schon enden. Denn es lohnt sich immer, Bücher von intelligenten Autorinnen zu lesen.

Dieses Buch ist aber besonders. Es ist so viel mehr, als ein schlichtes Sachbuch. Hinter dem Titel "Die neue Schule der Demokratie - Wilder denken, wirksam handeln" steckt neben profundem Fachwissen jede Menge an klugen Gedanken für die dringende Reform der Schulen in Deutschland. Ganz besonders besonders ist das Buch auch noch aus einem weiteren Grund. Marina Weisband ist an MECFS erkrankt. Sie selbst stellt das nicht in den Vordergrund. Ihr Handicap steht aber gut versteckt und humorvoll verpackt auf Seite 127. Sie schreibt dort über den Weg zur Demokratie:

... - um im Bild zu bleiben -, dass eine Bergesteigung für viele gar nicht möglich ist, der Gang über eine lange Ebene aber sehr wohl. Er ist sogar mit dem Rollstuhl zu bewältigen, also auch für mich ...

Wir dürfen also davon ausgehen, dass dieses Buch nicht von leichter Feder entstanden ist, sondern dass Marina Weisband sich jeden Satz, jeden Gedanken abgerungen hat. Das merkt man auch daran, dass das Buch niemals langweilig ist. Es ist kompakter Gedankenstoff. Vielleicht zu konzentriert?

Es ist ein Buch, das vielen, die im Bildungssystem arbeiten, nicht gefallen dürfte. Denn es zeigt auch an vielen Praxisbeispielen: eine Wandlung ist möglich. Wir kommen noch darauf zurück.

Marina Weisband ist in der Ukraine in Kiew als Tschernobylkind geboren. Sie litt schon in ihrer Kindheit gesundheitlich unter den Folgen der Reaktorkatastrophe. Die Familie zog nach Deutschland. Marina Weisband studierte Psychologie. Aber das sind nur trockene Fakten. Ihr Vater war Programmierer.

Chatgpt hilft mir gerade bei der Recherche:

Marina Weisband begann im Alter von 15 Jahren mit dem Programmieren. Sie erlernte das Programmieren autodidaktisch und entwickelte dabei schnell eine Leidenschaft für die Technik. Diese Fähigkeiten trugen später auch zu ihrem Engagement in der Piratenpartei Deutschland bei, wo sie sich für digitale Themen und die Förderung von Transparenz und Bürgerbeteiligung einsetzte.

Aber zurück zum Buch.

Das Buch erschien am 24. April 2024. Die Wahl zum Europäischen Parlament fand vom 6. bis 9. Juni 2024 statt. In der Einleitung beschreibt Marina Weisband unter der Überschrift "Die Lust an der Demokratie" sehr klar die politischen Verhältnisse in Europa und weist auch klar auf die dringende Notwendigkeit hin, diese Demokratie aufrecht zu erhalten, zu schützen und zu pflegen. Man fragt sich: ist die Autorin hellsichtig?

Nein! Das Buch hat nichts mit Esoterik oder Verschwörungstheorie zu tun. Es ist im Gegenteil ein recht nüchternes Sachbuch in gut lesbarer, mitunter unterhaltsamer Form. Wer es also nicht so mit Sachbüchern hat, aber dennoch profundes Wissen aufnehmen will, der ist mit diesem Buch schon einmal richtig.

Bereits auf Seite 14 macht Marina Weisband die Schultoilette als einen wichtigen Ort aus, an dem Demokratie sichtbar und erlebbar wird. Ganz nebenbei: in dem letzte Woche vorgestellten Gutachten der Expertenkommission der Kultusministerkonferenz, welches aus 16 Forscherinnen unterschiedlicher Disziplinen besteht, findet sich nicht ein einziges Wort über Schultoiletten. Liebe Leserin, lieber Leser - versteht ihr was ich meine? Das Buch von Marina Weisband ist ein echtes Praxisbuch.

Generell, das könnte als ein leichter Kritikpunkt verstanden werden, geht es in dem Buch um die Einführung von aula, eine offene Plattform, die den Schulen hilft, demokratische Prozesse im Schulalltag zu implementieren. Marina Weisband hat aula 2014 gegründet und maßgeblich an der Architektur mitgearbeitet. So werden im Buch auch immer wieder Episoden aus der Arbeit mit aula erzählt. Genau dieser Schatz an Theorie und Praxis macht das Buch so wertvoll. Es wird oft auf Argumente von Bedenkenträgern eingegangen.

Die wirklich eindringliche Botschaft des Buches ist aber nicht das Tool aula, sondern die immer wieder auftauchenden Hinweise, welches Potential in der Demokratisierung der Schulen liegt. Dieses Potential erstreckt sich über sehr viele Ebenen. Da ist zu erwähnen der Schulalltag selbst. Wenn sich Schülerinnen und Schüler gesehen und wertgeschätzt fühlen, so werden zum einen Konflikte schon im Vorfeld vermieden. Da aula nicht nur ein Tool ist, sondern den Schulen auch Unterstützung anbietet, können Erfahrungen aus anderen Schulen skaliert werden. aula ist damit - wie auch die Demokratie selbst - kein Selbstläufer. Ohne ein gewisses Engagement von Schulleitern und Lehrern wird auch ein aula Prozess nicht in Gang kommen. Da die Befähigung zur politischen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen aber ganz klarer Bildungsauftrag ist, sollte aula eigentlich an jeder Schule zur Pflichtausstattung gehören.

Das Buch, und auch das ist mir wichtig, ist nicht nur ein kluges und empfehlenswertes Buch für Lehrerinnen und Lehrer und für Entscheiderinnen im Schulsystem. Das Buch ist auch für Eltern lesenswert. Es ist sogar für Menschen lesenswert, die weder Kinder haben noch mit dem Schulsystem in Berührung kommen. Denn es zeigt ganz klar auf, wie unsere Gesellschaft geprägt wird. Wie wichtig es ist, gerade junge Menschen Selbstwirksamkeit erleben zu lassen, um sie zu aktiven Teilhabe in der Gesellschaft zu befähigen.

Durch ihr Studium der Psychologie und ihre Erfahrung als Politikerin sowie ihr Engagement für eine lebenswerte Gesellschaft ist Marina Weisband die ausgewiesene Expertin für dieses wichtige Thema.

Lest dieses Buch. Denn es ist sehr gut.