12. Dezember 2024
Bildung eines Expertenrates - eine Vision
Gestern war das Fass wieder einmal voll. Die Lehrerin in Latein fragt in der Klasse, wer denn dafür ist einen Test noch in dieser Woche zu schreiben. Dann fragt sie, wer dafür ist den Test in der nächten Woche zu schreiben und dann fragt sie, wer dafür ist den Test nach den Ferien zu schreiben. Ein Schüler enthält sich bei allen Antwortmöglichkeiten. Sie sagt zu dem Schüler: Du hast dich nicht gemeldet! Das geht nicht!
Eigentlich eine Kleinigkeit. Nur: solche Kleinigkeiten sind Indikatoren für ein zutiefst toxisches System. Schülerinnen und Schüler sollen gemäß der Landesschulordnung befähigt werden zur Teilnahme an der freiheitlich demokratischen Gesellschaft. Eine Stimmenthaltung ist in einer Demokratie ein legitimes Mittel zur Meinungsäußerung. Nur Diktaturen erlauben keine Enthaltung. Und: wir müssen solche Phänomene ernst nehmen.
Über diesen und andere Vorfälle und die psychosoziale Schulsituation im Allgemeinen schreibe ich eine E-Mail an die Leiterin des schulpsychologischen Dienstes in Schwerin. Mir ist es zumindest wichtig, dass sie in Schwerin auch Bescheid wissen, dass die psychosozialen Zustände in den Schulen so ein bisschen suboptimal sind. Sie antwortet prompt und einfühlsam. Sie bedankt sich für meine Nachricht, sagt klar, dass sie auch keine Lösung für das Problem hat. Sie schreibt unter anderem, dass es für die Jungs "... ein Glück (ist), Sie als Eltern zu haben ...".
Ich bin schon drauf und dran eine ausführliche Antwort zu formulieren. Ich lasse das aber lieber. Die Frau hat sicher noch Besseres zu tun als die Korrespondenz mit einem betroffenen Vater zu führen. Dennoch hier eine kurze Vision, wie die Geschichte weiter gehen könnte.
Wie wäre es, wenn das Schulamt mithelfen würde einen Expertenrat für Schulimpulse zu gründen? Es wären darin mehr oder weniger betroffene Schüler, Eltern und Lehrer vertreten. Der Expertenrat muss gehört werden. Der Expertenrat verfasst Vorschläge für die verschiedensten Bereiche. Dies könnte zum Beispiel sein:
- Klassenleiterstunden müssen im Stuhlkreis stattfinden. Die Worte "Nein", "Verbot", "nicht erlaubt" sind seitens des Lehrers verboten. Es wird ein Protokoll erstellt.
- Aula ist verpflichtend für alle Schulen einzuführen
- Die Deutungshoheit über Schulnoten obliegt alleine den Erziehungsberechtigten und den Schülerinnen
- Sitzenbleiben wird abgeschafft. Schüler werden auf Wunsch immer versetzt
- Klassenraumtüren bleiben offen
- Schüler bekommen zehn Urlaubstage. Auf Antrag können bis zu 20 Urlaubstage gewährt werden
- Es wird ein Eignungstest für die psychosoziale Eignung von Lehrern erstellt. Wird eine bestimmte Punktzahl nicht erreicht, erhält der Lehrer verpflichtende Schulungen und eine Unterrichtsbegleitung über mindestens zehn Stunden. Im Test gibt es eine Frage mit der Antwortmöglichkeit, die die Worte "Kinder müssen ..." enthält.
- Wenn Tests aufgrund von Fehlzeiten nachgeschrieben werden müssen, so muss dies innerhalb der regulären Schulzeit möglich gemacht werden
Auch wenn es ein wenig langweilig klingt: das wäre alles machbar. Aber vor allem: es ist dringend. Es brennt nämlich wirklich an Deutschlands Schulen. Es brennt lichterloh. Und eigentlich müssen wir der adultistischen Lateinlehrerin dankbar sein, dass sie das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es ist unsere Chance.
Die volkswirtschaftlichen Kosten, die durch Persönlichkeitsstörungen verursacht werden, gehen in die Milliarden. "Nach aktuellen Angaben der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, verursachen psychische Erkrankungen in Deutschland mit jährlich 44,4 Milliarden Euro ...". So viel Nutzen kann Schule durch autoritäre Methoden niemals erbringen. Ich will die Schuld für psychische Erkrankungen nicht alleine der Schule anlasten, denn angelegt werden sie meist im Elternhaus. Allerdings ist unbestritten, dass deutsche Schulen die Nachteile von Schülerinnen und Schüler zusätzlich verstärkt. Es muss also das Augenmerk in erster Linie darauf gerichtet werden, dass die Schule psychosoziale Vorschädigungen und Dispositionen mehr auffängt als verstärkt.
Nun gibt es ja bereits Erfahrung mit solchen Expertenräten. In Sachen-Anhalt wurde ein solcher im Koalitionsvertrag vereinbart und dann auch eingesetzt. Hier gibt es einen Abschlussbericht der Arbeit nut den Titel Abschlussbericht der Expertenkommission zur inhaltlichen Weiterentwicklung des Schulwesens. Es steht mir nicht zu, diesen Bericht zu bashen. Eines fällt aber auf: die Empfehlungen sind so kompliziert, dass sie kaum eine Chance haben in der Praxis zu bestehen. Es ist keine Frage, dass an der Erarbeitung dieses Kompendiums echte Experten am Start waren. Auffällig ist dabei, dass in diesem Expertenrat weder Schüler noch Eltern vertreten waren.
Ob das Schulsystem in Sachen-Anhalt dadurch aber wirklich neue Impulse erfährt?