23. September 2023

Über Adultismus und ein Buch, das Sie nicht kaufen müssen

Adultismus, der Ismus mit dem die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene bezeichnet wird, ist omnipräsent. Adultismus ist dermaßen präsent, dass er von den meisten Menschen schon nicht mehr wahr genommen wird. Langsam, sehr langsam, beginnt die Gesellschaft hierfür eine Wahrnehmung zu entwickeln. Wann genau ein Umdenken begonnen hat, kann ich zwar nicht sagen. Ein Meilenstein war 1973, als körperliche Züchtigung an Schulen verboten wurde. Es dauerte dann noch bis Januar 2001, bis gewaltfreie Erziehung im § 1631 ins Bürgerliches Gesetzbuch geschrieben wurde. Kinder haben somit ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Sowohl körperliche Bestrafungen als auch seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Adultismus ist weit subtiler als körperliche oder unmittelbare seelische Gewalt wie Demütigung und Mobbing. Die Forschung zu Adultismus steht noch am Anfang. Hierzu gehört sowohl die Art und Weise, wie er ausgeübt wird, als auch die Folgen für die Entwicklung. Klar geht es, wie auch bei Ausübung von Gewalt, um die Demonstration und Ausübung von Macht. So ist es beispielsweise für viele Erwachsene vollkommen normal, in der Anwesenheit von Kindern in der dritten Person über sie zu sprechen. "Ach, ist sie aber süß!" - "Kann er denn schon Mama sagen?" Oder: "Gib der Tante die Hand!" - "Sag' Danke!"

Ich interessiere mich für das Thema. Denn das Problem ist omnipräsent. Was schlimmer ist: es ist gesellschaftsprägend. Wir sind in einer adultistischen Welt sozialisiert und geben den Adultismus weiter, wenn wir das Phänomen nicht reflektieren und unser Verhalten bewusst ändern. Ich habe nach einem Buch gesucht. Ich bin dabei gestoßen auf Adultismus und kritisches Erwachsensein: Hinter (auf-) geschlossenen Türen
von ManuEla Ritz und Simbi Schwarz. Ich habe den frei verfügbaren Trailer gelesen und war nicht so recht überzeugt. Überzeugt hat mich dann die Biografie von ManuEla Ritz. Ich fasse kurz zusammen: das Buch könnt ihr euch sparen. Leider. Ich glaube, dass die Autorinnen durchaus eine Botschaft haben. Sie ist aber schlecht verpackt, hauptsächlich in einer fiktiven Geschichte eines Seminars, in der die Autorinnen jeweils die Hauptrolle spielen. Es ist daher eher ein adultistisches Buch über Adultismus. Nach der Seite 59 konnte ich nicht mehr und musste das Buch beiseite legen.

Daher will ich mich mal in einer kompakten Zusammenfassung zum Phänomen der Erwachsenenbesserwisserei versuchen. Leider hier auch aus der Perspektive eines Erwachsenen.

Zunächst wollen wir uns mal sprachliche Unterschiede anschauen und dabei das Augenmerk auf das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern richten. Wir sagen "Ich habe ein Kind". Auf russisch heißt es "У меня есть ребёнок", was wörtlich übersetzt bedeutet "bei mir ist ein Kind". Das Kind zu "haben" bedeutet ein Besitz. Das Kind ist in unserem Besitz. "Bei mir" ist das Kind auf Augenhöhe. Daher formuliere ich mal Merksatz Nr. 1: Betrachte das Kind niemals als deinen Besitz. Du hast Verantwortung für das Kind übernommen. Es ist nicht dein Eigentum. Trage die Verantwortung, sehe es nicht als deinen Besitz.

Das hilft nämlich schon sehr viel, das Kind als ein eigenes Subjekt, als ein eigenes Selbst zu erkennen. Ja, ich weiß, es gibt Protagonisten, die behaupten, dass das Kind ja noch nicht "ich" zu sich sagt. - Vergesst bitte solchen Unfug. Ja, es kann sich auch noch nicht die Schnürsenkel binden und hat noch keinen schwarzen Dan in Philosphie. Aber: es ist dennoch ein "sich selbst", ein eigenständiges Wesen. Ja, es ist angewiesen auf eure Hilfe und Unterstützung. Aber seid ehrlich: das seid ihr auch. Auch mit dreißig, vierzig oder siebzig Jahren. Und wenn ihr achzig oder neunzig seid, dann werdet ihr sehr angewiesen sein auf Hilfe und Unterstützung.

Für den nächsten Punkt werde ich einigen Ärger bekommen. Daher muss ich hier etwas einfügen, was mir auch sehr sehr wichtig ist. Meine Merksätze sind nicht in Stein gemeißelt. Ja, man kann es so oder so machen. Man kann es so oder so sehen. Adultismus kommt als weiches, als schleichendes Gift daher. Und Kinder sind enorm fehlertolerante Wesen. Wir werden den Adultismus nicht von jetzt auf gleich aus unseren Lebens- und Verhaltensgewohnheiten fegen können. Wir müssen langsam lernen ein Bewusstsein darüber zu erlangen. Es gibt kein absolut richtig oder absolut falsch.

Also - zum nächsten Punkt. Wann lernt das Kind "Mama" und "Papa". Oder sagt das Kind zuerst "Mama" oder zuerst "Papa".

Kinder sind Meister in Nachahmung. Sie würden sonst nie sprechen lernen. Es gilt als ein gewisser Stolz von Eltern, wenn das Kind "Mama" oder "Papa" sagt. Die traurige Wahrheit ist: es ist antrainiert zur Stärkung des Eltern-Egos. Normale Menschen heißen Paul, Susanne, Kevin oder Marlen. Und sprechen sich auch so an. Manche nennen sich Claudi, Wolfi oder Sabi - das lassen wir jetzt mal weg. Wenn dann aber Eltern stundenlang auf das Kind einreden und jedes zweite Wort "Mama" oder "Papa" ist, dann wird das Kind das lernen. "Das ist die Mama!" - "Wo ist der Papa? - sag P-a-p-aa!!!!" - "Sag M-aa-m-a-aa". Irgendwann wird es "Mama" und "Papa" sagen. Das Kind wird geprägt, das im Aufbau befindliche Hirn wird geprägt. Und es wird ein Leben lang "Mama" und "Papa" sagen. Das wirklich fatale daran ist, dass ihr dabei dem Kind die gigantische Möglichkeit nehmt, den Klang und die Vielfalt von Sprache in ihrer Ganzheit wahrzunehmen. Die Aufmerksamkeit des Kindes wird gebannt von "Mama" und "Papa" - so eindimensional wird die frühe Vernetzung des Gehirns festgelegt. Wenn Eltern mit ihren Kindern in normaler Sprache kommunizieren, wird ihnen dies in ihrem späteren Leben helfen. Aber was ist nun adultistisch an Mama und Papa?

Wir müssen nicht weit zurück gehen in der Geschichte. Ich hab jetzt nicht genau nachgeschaut, daher komme ich mit der ungefähren Zeitangabe "früher". Früher haben Kinder noch "Sie Vater" und "Sie Mutter" zu den Eltern gesagt. Das "Du" zu den Eltern ist noch gar nicht so alt. Es wurde extrem Wert darauf gelegt, das Machtverhältnis zu manifestieren. "Papa" und "Mama" sind nun noch späte Relikte dieses Machtverhältnisses. Das bedeutet, dass es durch sprachliche Normen weiter besteht. Es gibt durchaus Kinder, die nicht mit einer Papa-Mama-Prägung aufwachsen. Und das ist auch nicht trivial. Denn solche Kinder werden dann auch gerne mal gemobbt. Von Erzieherinnen im Kindergarten wird ihnen befohlen, dass sie "Papa" und "Mama" zu sagen haben, wenn sie über ihre Eltern sprechen. "Papa-Mama"-Kinder schauen sie komisch an. Daher sage ich nochmal: es gibt kein richtig oder falsch. Ich denke aber, dass es gut ist diesen Mechanismus zu kennen.

Ich formuliere hier also einen abgeschwächten Merksatz 2: Spart die Vokabeln "Papa" und "Mama" gerne in eurem Wortschatz aus. Sprecht euch gegenseitig entweder mit Vornamen an. Wenn ihr euch wohler fühlt euch mit "Papa" und "Mama" anzusprechen, dann ist das auch möglich. Dressiert eure Kinder nicht, einen bestimmten Namen zu sagen. Euer Kind wird lernen das richtige zu sagen.

Wir machen aber mal mit Sprache weiter. Und den Merksatz muss ich sehr eindringlich formulieren. Merksatz 3: sprecht euer Kind immer so an, wie ihr auch angesprochen werden wollt. Sprecht euer Kind niemals so an, wie ihr nicht angesprochen werden wollt. Diesen Merksatz kann man ruhig in Stein meißeln. Denn er gilt ohne Ausnahmen.

Ein paar praktische Beispiele hierzu: adultistisch "Zieh Dir die Schuhe an!" - nicht adultistisch: "komm, wir ziehen uns die Schuhe an und gehen raus". Adulstistisch: "Iss ordentlich!" Nicht adultistisch: nichts sagen. Das Kind ahmt euch nach. Kinder sind Weltmeister in Nachahmung. Sie versuchen ordentlich zu essen. Dabei machen sie auch mal einen Fehler. Fehler gehören zum Lernprozess dazu. Mehr noch: ohne Fehler gibt es keinen Lernprozess. Wenn unmittelbar nach einem "Fehler", den das Kind in euren Augen macht, eine Reaktion von euch kommt, so wird der Lernprozess erschwert oder verhindert. Denn: das Kind wird vollauf mit sich selbst beschäftigt sein, zum einen den Fehler zu erkennen, zum anderen zu verarbeiten. Was ist schief gelaufen? Warum ist es schief gelaufen? Was muss ich in Zukunft anders machen, damit nichts schief geht? Eine Reaktion eurerseits unterbricht genau diesen Erkenntnisprozess, der beim Kind unbewusst und blitzschnell abläuft.

Wenn das Kind laufen lernt und es fällt hin, so wird der Adultist sofort dem Kind zu Hilfe eilen oder ihm irgendetwas zurufen. Macht das bitte nicht! Natürlich müsst ihr darauf achten, ob dem Kind etwas schlimmes passiert ist, ob es sich verletzt hat usw. Das werdet ihr aber eh erst aus der Reaktion des Kindes erfahren. Sowohl ein "das war doch gar nicht so schlimm!", als auch ein "oooh weeeeh - jetzt hast du dir weg getan, Mama muss sofort pusten!" ist kontraproduktiv. Ja, das Kind muss sich sicher fühlen. Es muss aber auch seine eigenen Erfahrungen machen dürfen - auch wenn es weh tut. Den Schmerz könnt ihr dann immer noch lindern.

Kinder sind keine billigen Arbeitskräfte. Eltern sind versucht, Kinder dazu zu zwingen im Haushalt zu helfen. Ja, Kinder machen Arbeit. Kinder machen sogar viel Arbeit. Denkt dabei aber immer daran, dass ihr euch dieses Kind gewünscht habt, dass ihr das Kind gezeugt oder adoptiert habt, dass Kinder nicht euer Besitz sind. Keine Sorge, Kinder lernen Verantwortung. Ihr werden den Kindern keine Verantwortung beibringen, wenn ihr sie zwingt ihr Zimmer aufzuräumen. Es geschieht nämlich genau das Gegenteil: sie werden einen Widerwillen gegen das Aufräumen entwickeln. Die meiste Sauerei in den Kinderzimmern wird durch Eltern verursacht, die den Kindern einfach viel zu viel Zeug schenken oder schenken lassen. Hütet euch auch davor, den Kindern das Zimmer aufzuräumen. Räumt einfach zusammen auf. Macht ein Spiel daraus. Macht das genauso mit der Hausarbeit. "Komm, wir räumen noch eben die Spülmaschine aus" - schaut mal auf die Uhr. Das ist in weniger als fünf Minuten gemacht. Wenn das Kind aber gegen seinen Willen dazu gezwungen wird, so treten vielfältige Missfiteffekte auf. Das Geschirr wird durcheinander in den Schrank geräumt. Es fällt mal was runter. Es dauert ewig. Das Kind wird nichts lernen außer, dass es möglich ist auf andere Mitmenschen Druck auszuüben, dass sie etwas bestimmtes machen. Der Schaden überwiegt deutlich den Nutzen. Und nochmal: Kinder sind fehlertolerant. Natürlich werden sie irgendwann lernen eine Spülmaschine auszuräumen und irgendwie irgendeine Ordnung zu halten. Es wird aber stets ein Kraftakt bleiben. Ein Leben lang.

Ich muss einem Vorurteil vorbeugen. Abwesenheit von Adultismus wird von Adultisten gerne damit verwechselt, Kinder in Watte zu packen. Oder zu behaupten: "dann tanzen sie den Eltern auf der Nase herum ...". Genau das wird nicht passieren. Kinder, die nicht von Adultismus geprägt werden, werden eher ihre eigenen Erfahrungen machen können. Dabei setzen sie sich bewusst oder unbewusst auch Gefahren aus. Dies sind aber Gefahren, denen sie in der Regel gewachsen sind oder an denen sie wachsen können. Kinder wissen sehr genau einzuschätzen, ob sie eine Mauer herunter springen können, ob sie einen Baum hoch klettern können und noch vieles mehr. So lange sie unter eurere Beobachtung stehen, könnt ihr die Situation ganz einfach abschätzen. Besteht in der Situation eine für die Kinder unbekannte und ernsthafte Gefahr? Zumeist ist dies nicht der Fall. Genau an diesen Stellen wächst ihr Selbstvertrauen. Wenn sie über ein Seil balancieren wollen und erst einmal Hilfe anfordern, dann gebt ihnen die Hilfe. Sagt nicht aus Bequemlichkeit: "das schaffst du alleine!" Kinder wollen selbständig werden. Daher werden sie nur Hilfe anfordern, wenn ihnen diese Hilfe zur Selbständigkeit nutzt. ... Sofern sie nicht durch Adultismus zur Ängstlichkeit erzogen wurden ... Und: nein, sie trampeln einem nicht auf der Nase herum. Im Gegenteil. Kinder wissen sehr genau um die Symbiose zwischen sich und den Erwachsenen. Das biologische Stichwort heißt Entengen.

Gehen wir einen Schritt weiter in die Schule. Natürlich könnt ihr die Kinder fragen, wie es in der Schule war. Vielleicht wollt ihr ja selbst von eurem Partner gefragt werden, wie es euch geht und was ihr erlebt habt. Adultistisch wird es, wenn ihr täglich die Hausaufgaben der Kinder kontrolliert. Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch und tragen nicht zum Lernerfolg bei. Das wissen die Kinder von sich aus meist sehr gut. Lasst sie ihren Weg zur Selbstverantwortung finden. Helft ihnen dabei. Ja, es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die werden Stress machen. Und das ist tragisch. Die meisten Schulen sind total adultistisch. Deswegen gibt es diese Website. Kinder, die adultistisch und autoritär geprägt sind, werden es in der Schule leichter haben. Sie sind es gewohnt den Kopf einzuziehen, ihre eigenen Bedürfnisse nicht zu kennen. Sie werden ein eigenes Bedürfnis nicht durchsetzen. Das geht bis zur Körperverletzung. Wenn ein Lehrer den Kindern untersagt zur Toilette zu gehen, wird ein autoritär geprägtes Kind eher bis zum Ende der Unterrichtsstunde den Schmerz ertragen als dem Lehrer zu widersprechen. Durch gegenseitige Wertschätzung und Achtung geprägte Kinder haben mit unverständigen Lehrkräften eine schwere Schulzeit. Stärkt euren Kindern den Rücken. Das ist ein übelster Seiltanz, an dem viele Eltern verzweifeln. Studierte Lehrkräfte sind studierte Besserwisser und studierte Adultisten. Sie werden weder mit den Kindern noch mit euch auf Augenhöhe kommunizieren können oder wollen. Das ist eine Berufskrankheit. Es wird euch viel Nerven kosten. Es wird euch den Schlaf rauben. Versucht das beste aus der Situation zu machen. Mehr geht nicht.

Doch was bedeutet Adultismus für die Gesellschaft? Auch darauf wollen wir einen kurzen Blick werfen. Kinder sind vor allem eines: kreativ. Und Kinder lachen sehr viel mehr als Erwachsene. Kinder sind empathisch. Adultismus und autoritärer Umgang machen genau dieses zunichte: Kreativität und Lebensfreude. Diejenigen Kräfte also, die soziale Systeme zusammen halten werden vernichtet. Derzeit sehen wir wieder einen vermehrten Rechtsruck in der Gesellschaft. Lest gerne "Erziehung prägt Gesinnung" von Herbert Renz-Polster. Dies ist eine Leseempfehlung. Herbert Renz-Polster beschreibt in seinem Buch sehr gut die Zusammenhänge von Prägung durch ein autoritäres Umfeld auf die Gesellschaft. Ich kann das hier nicht alles wiederholen - es würde den Blogartikel sprengen. Der Zusammenhang ist aber sehr gut belegt. Wenn wir also tatsächlich eine Gesellschaft haben wollen, die auch künftige Aufgaben lösen kann ohne zusammen zu brechen, wird kein Weg darum herum führen den Adultismus zu überwinden.

Das Schulsystem befindet sich in einem langsamen, eher behäbigen Wandel. Zahlreiche Kräfte aus Politik und Verwaltung versuchen den so dringend benötigten Wandel aufzuhalten. Dem will ich hier entgegen wirken.