3. Februar 2024

Schlechte Noten zur Motivation

Das erste Schulhalbjahr der Klasse 7 eines Gymnasiums in Mecklenburg geht zu Ende. Die Halbjahreszeugnisse werden verteilt. In der E-Mail, die der Klassenlehrer den Eltern zum Ende des Halbjahres schreibt, steht folgender Satz:

"Der ein oder andere wird sich aber auch über einige Halbjahresnoten sicherlich ärgern und nimmt das hoffentlich als Ansporn sich bis zum Endjahr noch zu verbessern."

Was sagt dieser Satz aus?

Offensichtlich ist der Lehrer der Ansicht, dass schlechte Noten die Schülerinnen und Schüler motivieren.

Ist das wirklich so?

Ich starte eine Umfrage im Slackchannel der Eltern. Die Teilnahme ist leider sehr bescheiden. Es gibt eine Stimme, die schlechte Noten für eine Motivation hält, zwei Stimmen halten schlechte Noten für keine geeignete Motivation. Leider ist die Anzahl der Teilnehmenden zu klein, als dass man das Ergebnis irgendwie als repräsentativ ansehen könnte. Schade eigentlich. Aber immerhin: es gibt auch unter den Eltern stimmen, die schlechte Noten für eine Motivation halten, dass sich eine Schülerin, ein Schüler mehr anstrengt.

Die einfache Schlussfolgerung wäre nun, dass man allen Schülerinnen in allen Fächern eine sechs gibt und schon hat man die größtmögliche Motivation erreicht.

Nun müssen wir doch einen Blick auf die Faktenlage werfen. Und da wird es erstaunlich interessant. Es gibt so gut wie keine Studien, die sich mit der Auswirkung von Schulnoten auf das Lernverhalten befassen. Ich habe mal ein paar Links zu dem Thema zusammengestellt, die das Thema mit einer gewissen Seriosität behandeln.

Robert Bosch Stiftung: Das sagt die Wissenschaft über Noten

Bundeszentrale für politische Bildung: Das Dilemma mit den Schulnoten

Der Spiegel: Warum eine Sechs im Vokabeltest niemandem weiterhilft [€]

Der Spiegel: Schlechte Noten im Zeugnis Besser lernen ohne Zwang

Die Bildungsgewerkschaft GEW ist ebensowenig dabei wie der Philologenverband. Es nützt niemandem, den Kindern am allerwenigstens, wenn das Thema mit einer konservativen Brille betrachtet wird. Die Welt ist in Bewegung und wir prägen die Kinder für die Zukunft. Nicht für die Vergangenheit.

Es gibt noch zahlreiche weitere interessante Quellen, die unser Bild vollständiger werden lassen. Länder, die in Vergleichsstudien wie PISA besonders gut abschneiden, legen deutlich weniger Wert auf die Notengebung. Häufig gibt es in den unteren Klassen gar keine Noten. In Estland beispielsweise wird jedes Kind versetzt, vollkommen unabhängig von den Noten.

Interessant ist beispielsweise, dass es in der Hattie Studie keine Einflussgröße für die Notengebung gibt. Ich habe keine gefunden. Oder vielleicht doch? Schauen wir mal auf den größten Einflussfaktor auf den Lernerfolg: Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus steht auf Platz 1 mit einer Effektstärke von 1,44.

Das könnte doch mal ein Ansatzpunkt sein. Wollen wir nun, dass Kinder in der Schule gut lernen oder wollen wir das nicht? Wenn wir tatsächlich wollen, dass Kinder gut lernen, so müssen wir uns auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen öffnen und nicht nur alt hergebrachte Gewohnheiten beibehalten.

Die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus kann man ungefähr als das Gegenteil zur Notengebung betrachten. Die Notengebung ist eine Beurteilung von außen, die außerdem ungerecht ist, wie dies zahlreiche Studien und die tägliche Schulpraxis zeigt.

Auch die Hirnforschung zeigt: ein Hirn unter Stress lernt nicht. Mit schlechten Noten verursachen wir hauptsächlich Stress. Der Lernerfolg unter guten Lernbedingungen, unter denen die Neugier gefördert wird, unter der sich Schülerinnen wohl fühlen, ist ungefähr um Faktor 10 größer, als ein Lernerfolg unter Stress. Mit intrinsischer Motivation braucht eine Schülerin etwa ein Zehntel der Zeit um ein gewisses Pensum zu lernen, wie ein Schüler unter Stress.

Wie sich wieder einmal zeigt, benachteiligt die Notengebung einmal mehr das untere Leistungsspektrum. Auch dies wäre ein Grund, über die Auswirkung von Notengebung nachzudenken. Denn genau das untere Leistungsspektrum braucht Förderung und nicht Bedrohung.

Hier ganz zu schweigen von den schwerwiegenden psychsozialen Folgen, die viele Schülerinnen und Schüler durch schlechte Bewertungen erleiden.

Ob das nicht ein Hinweis wäre, der Notengebung weniger Bedeutung beizumessen? Ob das nicht Grund genug wäre, die Idee, dass schlechte Noten Schüler motivieren über Bord zu werfen?