30. September 2023

RTL Investigativ: Günter Wallraff undercover in der Kita - eine Kritik

Günter Wallraff ist Investigativprofi, Investigativklassiker und Investigativurgestein. Das heißt natürlich ganz Verschiedenes. Der Mann weiß sich mit 80 Jahren zu vermarkten. Er versteht es, eine bestimmte Botschaft in ein bestimmtes Licht zu setzen. Wir müssen also aufpassen. Dennoch muss man Günter Wallfraff bescheinigen, dass er immer wieder brisante Themen aufgreift und Situationen zeigt, die man so nicht erwartet hat. So ein Blick hinter die Kulissen hat es in sich. Es müssen hochprofessionelle und aufwendige Vorbereitungen getroffen werden. So banal so eine Recherche aussieht, es ist dann doch eine ganze Heerschar an Mitarbeitern unterwegs, die so eine Recherche durchführen. Immerhin: zweieinhalb Jahre hat die Recherche und Produktion zu den Kindertagesstätten in Deutschland in Anspruch genommen. Zu sehen ist sie bei RTL unter dem Titel Team Wallraff - Undercover 2023.

Was man sieht - bzw. nicht sieht, weil alle Protagonisten durch Unschärfe geschützt werden - lässt einem zuweilen das Blut in den Adern gefrieren. Nicht umsonst: Altersempfehlung ist ab 12 Jahren. Anschauen könnt ihr den Film selbst, den Inhalt muss ich hier nicht wiedergeben. Das Team hat exemplarische Fälle. Ich kann mir vorstellen, dass das Team bei seiner Recherchearbeit noch auf etliche weitere Fälle gestoßen ist. Möglicherweise weniger spektakulär, möglicherweise mit komplexeren Umständen. Und man muss auch verstehen: das Team kann nicht tausende von Kindertagesstätten aufsuchen. Nun stellt sich also die Frage: ist der im Film gezeigte Umgang mit Kindern in Kindertagesstätten Alltag oder sind das Einzelfälle? Erzieherinnen und Erzieher, Kindertagesstättenbetreiber und Behörden werden natürlich sagen: das stimmt so nicht! Das sind absolute Einzelfälle und in den meisten Kindertagesstätten gibt es solche Zustände nicht. Viele Eltern dagegen werden sagen: ich habe auch schon sehr unangenehme und grenzwertige Situationen in Kindertagesstätten erlebt. Einzelne Erzieher werden nachdenklich sagen: ja, die Situation in den Kindertagesstätten ist allgemein problematisch.

Wer ein bisschen mit Google spielt, findet schnell heraus, dass die Situation so unproblematisch nicht ist, wie sie Kitabetreiber gerne darstellen, Eltern gerne hätten und Kinder sich wünschen.

Die ZEIT: Kitas außer Kontrolle und Abgrund unterm Regenbogen.

Ich selbst habe Erzieherinnen in der Bekanntschaft. Sie klagen vor allem über übergriffiges Verhalten von Eltern und Kindern und über Überforderung und - man kennt das Lied - Personalmangel.

Der Film streift auch am Rande die Folgen, insbesondere für die Kinder. Ich kann aus persönlicher Erfahrung aus einer "guten" Kindertagesstätte berichten, dass die Folgen tatsächlich gravierend sind. Im wahrsten Sinne des Wortes. In einer Mecklenburger Kindertagesstätte wurden die Kinder zum Schlafen gezwungen. Auch mit sechs Jahren noch! Es musste absolute Ruhe herrschen. Bis ich gemerkt habe, wie sehr die Kinder darunter leiden, dauerte es Wochen, vielleicht sogar Monate. Die einzige Möglichkeit, die Kinder vor dem Horror zu bewahren war, die Kinder vor der Mittagspause abzuholen. Diese Möglichkeit haben nicht viele Eltern. Die Folge: eines der Kinder leidet bis heute unter Schlafstörungen. Man muss dabei wissen, dass Kinder von Natur aus leidensfähig sind. Denn sie wissen instinktiv sehr genau: sie sind von den Betreuungspersonen und dem Wohlwollen der Betreuungspersonen existentiell abhängig. Außerdem herrscht ein gewisser Gruppendruck innerhalb der Einrichtung. Das erkennt das Kind natürlich. Die Misshandlung macht sich dann nicht direkt bemerkbar und ist auch für Eltern nicht sofort zu erkennen.

Wichtig ist mir dabei zu betonen, dass wenige Erzieherinnen wirklich bösartig handeln. Die meisten Mitarbeiter in Kindertagesstätten sind durchaus der Ansicht, dass sie das Kind zu seinem Wohle zwingen bestimmte Regeln einzuhalten. Es ist die pure Unwissenheit oder Verzweiflung, die sie zu übergriffigem Verhalten verleitet. Die meisten Mitarbeiterinnen wissen wohl um die gesetzlichen Bestimmungen der physischen und psychischen Gewaltfreiheit. Sie wissen aber weder um die Folgen für Kind und Gesellschaft noch darüber, wo die Grenzen sind. Und man muss auch sagen: die meisten Erzieherinnen machen einen top Job.

Und was sind die Folgen für die Gesellschaft? Kinder werden im Kindergarten misstrauisch gegenüber Erwachsenen, denen sie anvertraut werden. Das grenzenlose Vertrauen, das ein Kind einem Erwachsenen entgegen bringt wird bereits im frühen Alter missbraucht. Das wirkt sich prägend auf das ganze Leben aus. Das wirkt sich prägend auf die gesamte Gesellschaft aus. Kinder, die noch stärker in Kindertagesstätten benachteiligt, ausgegrenzt oder direkter psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt sind, verlieren jegliche Selbstachtung und jegliches Vertrauen zu sich selbst. Sie verweigern die Teilhabe an der Gesellschaft. Eine Reintegration ist dann kaum oder nur mit enormem Aufwand möglich.

Es würde sich also lohnen, mehr Aufmerksamkeit und mehr Anstrengung und letzten Endes auch mehr Geld in Kindertagesstätten zu investieren.

Einen Lichtblick zeigt der Film. Wer den Film nicht sehen möchte, möge doch bitte das Ende anschauen. Dort wird in den letzten fünf Minuten eine Kindertagesstätte vorgestellt, die andere Werte lebt und vermittelt. Ohne Zauberei und ohne Hexerei - nur mit Menschenverstand und Empathie.