5. Oktober 2023

Entwicklungsgespräch - Theorie und Praxis klaffen weit auseinander

Das Entwicklungsgespräch ist wesentlicher Bestandteil im Schulleben eines jeden Lehrers. Es ist Bestandteil im Schulleben eines jeden Schülers und es ist außerdem Bestandteil im Schulleben der Eltern.

Wer hat nun welche Hoffnungen, Wünsche und Vorstellungen an so ein Gespräch, wie wird es durchgeführt, was sollte dabei heraus kommen und was kommt in der Praxis dabei heraus? - Das sind viele Fragen auf einmal, weshalb sich ein kleiner Ausflug in die Praxis aufzwängt. Gestern hatten wir solche Gespräche. Klasse 7 des nächsten Gymnasiums in Mecklenburg. Jeweils eine halbe Stunde. Ich war nicht dabei.

Wie immer, waren die Kinder etwas aufgeregt. Was sollten sie sagen? Was wird von ihnen erwartet? So ganz quasi eins zu eins dem Lehrer ausgesetzt. Der Lehrer, vielleicht muss ich das in der Einleitung erwähnen, hat bislang nicht besonders mit Empathie und Verständnis für die Schüler geglänzt. Als Eltern haben wir natürlich auf die Kinder eingeredet, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. - Uppps - Dejavue - das hatten wir schonmal. Ja, wir sind als Eltern natürlich auch mit einem Trauma aus den letzten Gesprächen aus der alten Schule belastet. Das Gespräch in der letzten Schule hat dann zum Gang zum schulpsychologischen Dienst geführt, der uns dann ein wenig aus der Patsche raus geholfen hat - just mit der aktuellen Schule.

Der Lehrer unserer neuen Schule nahm sich für jedes Kind wirklich eine halbe Stunde Zeit. Beim ersten Kind hat er sogar länger gemacht. Das muss man ihm wirklich hoch anrechnen. Eigentlich müsste er nur eine Viertelstunde machen. 26 Kinder mal eine Viertelstunde gibt auch 6,5 Stunden Arbeitszeit.

Das erste Kind kam dann enttäuscht, niedergeschlagen und frustriert aus dem Gespräch nach Hause. Ich habe versucht heraus zu bekommen, wie das Gespräch aus Sicht des Kindes verlaufen ist und was es so bedrückt. Das Kind ist vor allem lernwillig. Es ist aber bestrebt seine eigenen Lernwege zu gehen. Aus Sicht des Lehrers grenzt es an Auffälligkeit. Es ist nicht zurückhaltend. Es sagt auch seine Meinung. In der Autoritätsschule ist es schlecht aufgehoben. Es würde gerne seinen Schulranzen von überflüssigem und unnötigem Papier befreien und mehr auf dem Tablettcomputer arbeiten. Nicht um dort zu daddeln, sondern um ein Werkzeug in der Hand zu haben, welches es unterstützt die Aufgaben schneller abzuarbeiten. Ja, es ist ein Schnelldenkerkind - so nenne ich es mal. Es hätte gerne Freude in der Schule. Es hilft auch gerne anderen Kindern. Es ist Klassensprecherstellvertreter. Es hat versucht, dem Lehrer zu erklären, wie sinnlos Notengebung für den Lernprozess ist. Es hat ein Beispiel aus der eigenen Schulerfahrung erzählt. Der Lehrer hat gefragt, weshalb es denn im letzten Zeugnis eine drei bei Mitarbeit hatte. Jetzt Spoiler: das Kind wird im nächsten Zeugnis garantiert keine bessere Note als eine drei in Mitarbeit bekommen.

Auch die Vokabel "... wir sind eine staatliche Schule ..." fiel in dem Gespräch. Offenbar eine recht beliebte Floskel unter Lehrkräften. Man muss dem Lehrer zugestehen, dass er auch nur ein Mensch ist. Es gibt sicher Eltern, die erwarten, dass der Lehrer perfekt ist und alles weiß. Das setzt den Lehrer natürlich unter einen gewissen Druck, auch in so einem Gespräch keinerlei Blöße oder Schwäche zu zeigen. Liebe Lehrer: zeigt euch doch einfach auch mal als Menschen. Nein, ihr wisst nicht alles. Wir als Eltern wissen ja auch nicht alles. Den Spruch mit der staatlichen Schule könnt ihr euch aber wirklich sparen. Das ist so, als wenn ihr uns für dumm verkaufen wollt. Denn natürlich gucken wir auch Fernsehen und lesen die Zeitung - und das Landesschulgesetz. Und wir wissen, was staatliche Schulen können und dürfen und wir kennen sogar deren Auftrag.

Es gab noch ein paar weitere Highlights die mir berichtet wurden. So fragte der Lehrer die Mutter, wo sie denn arbeiten würde. Da sagte sie, dass sie bei der Hansestadt Wismar arbeitet. Was den Lehrer dann zum Ausspruch ermunterte, dass sie da ja auch nicht so viel lernen müsse. Und das tut natürlich weh. Auf mehreren Ebenen. Der Lehrerberuf ist nach dem Pfarrer derjenige Beruf, der in den letzten hundert Jahren am wenigsten Wandlung, Entwicklung und Veränderung erfahren hat. Eine der großen Innovationen in den letzten hundert Jahren: 1938 wurde die Schulnote sechs eingeführt. Es ist anmaßend, beleidigend und herabwürdigend, einem anderen Menschen zu sagen: ach, da musst du ja nicht so viel lernen. Insbesondere einem Beamten steht ein solches Urteil nicht zu.

So lässt sich die Erwartung des Lehrers etwa so zusammenfassen: er möchte wissen, wie er mit möglichst geringem Aufwand einen guten Notendurchschnitt in der Klasse erzielen kann. Das ist legitim. Lehrer gehören zur Berufssparte mit der höchsten mentalen Belastung. Da muss man ihm zugestehen, dass er seine Arbeit so effizient wie möglich machen will. Das bedeutet: Einheitsbrei in die Köpfe rein stopfen und Einheitsbrei wieder auskotzen lassen. Dass er dann für dieses Prinzip die Vokabel "lebenslanges Lernen" missbraucht, ist schon fast Satire.

Die Erwartung der Eltern mögen sehr unterschiedlich sein. Ich bin sicher, dass die Mehrzahl der Eltern auf Linie des Lehrers ist und das Reinfress- und Auskotzprinzip verteidigt. Es gibt aber auch andere Eltern. Eltern, die wissen, dass ein gutes und nachhaltiges Lernerlebnis nur mit den entsprechenden motivierenden Botenstoffen im Hirn erzielt werden kann. Eltern, die wissen, dass es vor allem darauf ankommt, dass sich die Kinder in der Schule wohl fühlen. Dass Kinder von sich aus gerne lernen. Dass ein nachhaltiges Lernergebnis nur erzielt wird, wenn die Kinder auch miteinander interagieren, eigene Wege finden und sich Zusammenhänge erschließen können, also das Gegenteil eines linearen Lernweges gehen.

Die Erwartungen der Schüler sind möglicherweise auch unterschiedlich. Von unseren Kindern kann ich sagen, dass sie wahrgenommen werden wollen. Auch in ihrer Einzigartigkeit. Dass ihre Bedürfnisse gesehen werden sollen.

Wenn wir uns jetzt einfach nochmal aus dem Gespräch raus beamen und das System Schule mit dem Bermudadreieck Schüler - Lehrer - Eltern anschauen. Was könnte ein allgemein zu formulierendes Ziel für alle Beteiligten sein? Genau: es sollten alle, Lehrer, Eltern und vor allem Schüler mit neuem Schwung, mit Zuversicht, mit Verständnis füreinander, gestärkt aus dem Gespräch heraus gehen. Oder auch: motiviert. Zuweilen wird auch von Motivationsgesprächen gesprochen. Wir müssen in unserem Falle ganz klar sagen, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Es wurde faktisch das Gegenteil von dem erreicht, was das eigentliche Ziel ist.

Der Lehrer wird kopfschüttelnd nach Hause gehen und sagen: das sind sehr sonderbare Eltern. Mit denen kann man ja überhaupt nicht reden. Die haben ja überhaupt keine Ahnung was gut und richtig ist für ihre Kinder. Die Eltern sagen: das ginge doch sicher auch etwas besser, wenn der Lehrer nicht ein ganz so enges und verkrampftes Weltbild hätte. Und die Kinder? Die werden quasi zermahlen zwischen ihrem Wunsch sich zu entwickeln und zu entfalten und der preussischen Autoritätsschule.

Einmal mehr haben diese Gespräche gezeigt, dass die Schule sozusagen am Beginn der Entwicklung steht. Befriedigend war es sicher nicht. Ausreichend auch nicht.

Schule geht besser.