6. Mai 2022

Einmal die Gewaltspirale abwärts. Von Waldemar P. bis zum Schüler C und wieder zurück.

Der 69-jährige Waldemar P. lässt mit seiner mehr als 100.000 Mann starken Armee ein friedliches Land überfallen. Der Schüler C greift den Schüler A auf dem Pausenhof an. Gewaltforscher und Strafrechtler sehen Strafen nicht als geeignete Maßnahmen an Gewalt zu verhindern. Gibt es Zusammenhänge? Und: können wir aus den Erkenntnissen etwas lernen?

Zugegeben, der Bogen vom Waldemar P. auf den Schulhof ist weit. Dennoch muss uns klar sein: Gewalt hat Ursachen. Der Mensch ist die einzige Spezies, die der gleichen Spezies ohne eigene Not Gewalt antut. Im Tierreich ist das Verhalten unbekannt. Ja, es gibt Schweine die ihre Jungen fressen. Dieses Verhalten sehen wir aber maßgeblich bei Schweinen in Gefangenschaft. Es gibt Revierkämpfe unter Tieren, aber das sind Überlebenskämpfe. Scheinbar grundlose Aggression gegen Artgenossen ist eine menschliche Eigenschaft und - ich gehe noch einen Schritt weiter - tritt hauptsächlich in den sogenannten hoch entwickelten Kulturen in Erscheinung.

Es macht also durchaus Sinn am konkreten Fall einmal anzuschauen, was denn da passiert. Im ganz konkreten Fall geht es eher um eine Lapalie. Wir werden aber sehen, dass es keine Lapalie ist. Dazu müssen wir einen weiteren Aspekt mit einbeziehen. Was macht es aus, dass ein Mensch gewalttätig wird? Genau - die trivialen Parameter kennen wir: Sozialisation, Prägung, Gewalterfahrung, eventuell sogar eine genetische Disposition. Aber die Krux ist doch: der eine Mensch wird gewalttätig, der andere Mensch unter den gleichen oder sogar schlechteren Bedingungen nicht. Es gibt hierfür keine Verlässlichkeit. Wir müssen einen weiteren Aspekt hinzu nehmen. Ich bediene mich hier mal aus dem Vokabular der sogenannten Umweltaktivisten: den Kipppunkt. Irgendwo gibt es in der Biografie eines Menschen diesen Punkt, an dem er nicht mehr kann. Es ist der Punkt, an dem er überfordert ist mit der eigenen Frustration, mit dem ihm angetanen Leid umzugehen. Die absolute Ausweglosigkeit. Wir nennen diesen Moment mal den Kipppunkt. Der Volksmund sagt auch, es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Kein Mensch wird böse geboren. Das muss die Grundüberzeugung sein. Sonst müssen wir ja überhaupt nicht nachdenken darüber, wie Kriege verhindert werden können, wie tätliche Angriffe auf Schulhöfen verhindert werden können.

Es gibt jetzt verschiedene Parameter zu diesem volksmündlichen Fass. Der eine Parameter ist die Fassgröße. Dann gibt es einen möglichen Ablauf. Vor allem gibt es einen Zulauf. Das eine Fass hat einen Zulauf, der rege sprudelt, das andere Fass hat einen Zulauf, der nur mal gelegentlich geringfügig tröpfelt. Wir können uns das so vorstellen. Wir dürfen davon ausgehen, dass jeder Mensch ein gewisses Maß an schlechten Erfahrungen verkraften kann, vielleicht sogar braucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Menschen gibt, der in idealen Bedingungen aufwächst, also niemals irgendeine schlechte Erfahrung macht. Wir können jedoch davon ausgehen, dass sehr viele Parameter Einfluss darauf haben, ob sich das Frustfass bei einem Menschen langsamer oder schneller füllt bzw. leert, wann es voll ist und wie er damit umgeht. Deswegen wird hier auch etwas vereinfacht gedacht.

Bei Waldemar P. wird derzeit wild spekuliert. Klar ist, dass er unter autoritären Bedingungen aufgewachsen ist, dass er autoritär geprägt ist und mehr oder weniger professionell unter KGB-Bedingungen autoritär geschult wurde und diese Schule auch recht gut angenommen hat. Er säße sonst nicht dort wo er heute sitzt.

Beim Schüler C können wir auch von einer gewissen Disposition ausgehen. Wir kennen ihn nicht. Ich kenne ihn nicht. Ich kenne aber durchaus Kinder, die zu Auffälligkeiten neigen. Und ja: sie haben bereits Gewalterfahrung gemacht. Wobei wir den Gewaltbegriff über die körperliche Gewalt hinaus fassen müssen. Ja, und auch dort muss angesetzt werden. Denn auch jene, die dem Schüler C Gewalt angetan haben, wurden in irgendeiner Art und Weise Gewalt ausgesetzt, sind in einer Art und Weise geprägt, dass sie keine Verantwortung für C übernehmen konnten. Wir müssen an einer Stelle ansetzen, wo wir Einfluss auf das Geschehen haben. Was wäre ein besserer Ort als die Schule?

Es ist eigentlich eine Lapalie. In der Schulordnung steht, dass zuckerhaltige Getränke verboten sind. Vermutlich haben das auch Menschen in die Schulordnung geschrieben, die bereits eine gewisse autoritäre Prägung erfahren haben. Vernünftige Menschen schreiben so etwas nicht in Schulordnungen. Aber wir wollen allen Beteiligten gute Absichten unterstellen. Nun wurde der Schüler C, dessen Fass ohnehin schon gut angefüllt ist mit Frust und Ärger, der ohnehin über weniger Selbstvertrauen verfügt, dem eigene Techniken zum Umgang mit Frust und Ärger fehlen, dieser Schüler wurde vom Lehrer Dr. B. mit einem zuckerhaltigen Getränk erwischt. Möglicherweise hat sich Schüler C nicht einmal etwas dabei gedacht, vielleicht hat er die Regel einfach vergessen, vielleicht war es ihm einfach egal. Dr. B. ist schwer der Ansicht, dass sich besonders Schüler C an die Regeln halten muss. Er erteilt Schüler C einen Verweis. Wegen der Verletzung der Schulordnung. Denn Dr. B. ist überzeugt: er muss seine volle Autorität walten lassen. Nur so wird er Schüler C auf die richtige Spur bringen.

Wir machen mal einen Abstecher in die Landesschulordnung. Denn häufig wird von autoritäten Persönlichkeiten in der Schule auf die Schulordnung verwiesen. Ich zitiere hier nur einmal den §2 Absatz 1

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen wird bestimmt durch die Wertentscheidungen, die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern niedergelegt sind. Zu ihnen gehört eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der wertschätzenden Kommunikation, die die Würde der Schülerpersönlichkeit wie der Lehrpersönlichkeit achtet. Ziel der schulischen Bildung und Erziehung ist die Entwicklung zur mündigen, vielseitig entwickelten Persönlichkeit, die im Geiste der Geschlechtergerechtigkeit und Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen.

Und wenn ich die ganze Schulordnung lese, dann lese ich darin keinen einzigen Satz, der besagt, dass ein Lehrer seine Autorität gegenüber einem Schüler zu dessen Nachteil missbrauchen darf. Keinen einzigen. Im Gegenteil.

Aus § 3:

Schülerinnen und Schüler sollen in der Schule insbesondere lernen

...
- die eigene Meinung zu vertreten und die Meinung anderer zu respektieren,
- die grundlegenden Normen des Grundgesetzes zu verstehen und für ihre Wahrung sowie
- für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzutreten,
...

Was geschieht beim Schüler C? Natürlich wird das Frustfass nochmal deutlich aufgefüllt. Der Abfluss ist verstopft. Möglicherweise ist er klug und erkennt, dass mit der Schulordnung etwas nicht in Ordnung ist. Auf jeden Fall kann er erkennen: er wird ungerecht behandelt. Denn er sieht überall Kinder, die zuckerhaltige Getränke auf dem Schulgelände zu sich nehmen. Diese Kinder müssen keine Konsequenzen fürchten.

Eines Tages trifft er auf Schüler A, der unbeobachtet, am Rande des Schulgeländes eine Dose Spezi trinkt. Das ist sein Moment. Das Fass läuft über. Nein, es ist keine bewusst gesteuerte Reaktion. Es ist keine Absicht. Es ist die pure innere Verzweiflung. Zum einen weil er selbst ungerecht behandelt wurde und jetzt trinkt dieser andere Schüler auch noch ein zuckerhaltiges Getränk und wird dafür nicht bestraft. Er nimmt also das Faustrecht selbst in die Hand. Und greift Schüler A an.

Was folgt: Tadel. Was folgt: Frust wegen ungerechter Behandlung. Was folgt: weitere Gewalt.

Im Fachjargon nennt man dies eine Gewaltspirale. Wer hätte die Möglichkeit und die Aufgabe diese Spirale zu durchbrechen?

Da gehen die Meinungen offenbar auseinander. Dr. B. sagt: der Schüler C hat gegen die Regeln verstoßen, also muss er getadelt werden.

Nur: das widerspricht jeglicher Logik. Was ist denn das für eine Autorität, die nicht in der Lage ist eine Fehlleitung zu korrigieren? Genau: es ist keine Autorität. Es ist eine autoritäre Gestalt, die ihre Macht missbraucht.

Eine Autorität würde zum Schüler C hin gehen und sagen: "Aaah du magst Limonade?" Dann würden sie über die Schulordnung ins Gespräch kommen. Schüler C würde merken, dass er geachtet wird. Dass er gehört wird. Sein Selbstbewusstsein würde steigen. Dann würden sie zusammen eine Initiativgruppe gründen, um eine vernünftige Schulordnung zu formulieren. Schüler C würde seine Verantwortung dabei spüren. Sie würden diese neu erarbeitete Schulordnung mit der Schulleitung besprechen.

Liebe Freunde. Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Die Köpfe müssen vernünftig werden. Im Volksmund: der Autoritätsscheiß muss aufhören. Tut das aus welchem Grunde auch immer. Tut es für euch! Tut es für alle Schüler. Tut es für die Gesellschaft. Es geht ums ganze Leben. Nicht nur im Schüler C gibt es einen Kipppunkt. In der Gesellschaft gibt es diesen auch. Wir brauchen jeden Menschen. Jeder Mensch muss die Chance bekommen an der Gesellschaft sozialkompetent, selbstbewusst und verantwortlich teilzunehmen. Jeder.

Waldemar P. wäre zu einem anderen Menschen geworden, hätte er in seiner Kindheit und Jugend statt Hackordnung Sozialkompetenz gelernt. Statt Verachtung anderer Menschen Selbstbewusstsein und statt Gleichgültigkeit Verantwortung.

Versteht ihr was ich meine? Schule geht besser!