9. August 2022
Die ZEIT: Lernrückstände durch Corona: Mehr Leistung wagen!
Es gilt einmal mehr eine These in Zweifel zu ziehen. Ernsthaft.
Hannah Bethke schwingt sich in ihrem Kommentar in der Zeit (Bezahlschranke) auf, den Schülern nach zwei Jahren Pandemie doch bitteschön wieder mehr Leistung abzufordern. Der Artikel hat mit aktuellem Stand 184 Kommentare. Nur einer (!) davon ist tatsächlich lesenswert:
„…nahtlos einfügt in eine jahrzehntelang praktizierte Pädagogik der Schonung und Niveauabsenkung. “
Es gibt offenbar pädagogische Konzepte jenseits der Vorstellungswelt der Autorin. Der Blick darauf, worauf es in der Schule ankommt, hat sich verändert. Das wirkt auf Leistungsorientierte evtl. befremdlich.
MrGaga
Und bekommt dabei erstaunlich viele Sterne!
Was macht, so muss sich der geneigte Leser ja fragen, die Kommentatoren, den Philologenverband und die Kommentatoren der Kommentatoren so leistungsversessen?
Ganz pauschal lässt sich ja feststellen: die Leistungsgesellschaft hat versagt! - Nicht nur in Amerika oder in Russland. In Deutschland sitzt derzeit ein Mensch im Kanzleramt, der offensichtlich in zweifelhafte Cum-Ex-Geschäfte verwickelt war. Gerade wird einmal thematisiert, wie Führungsetagen von Rundfunkanstalten zu Selbstbedienungsläden mutieren ... Natürlich ist das nur eine Ausnahme und es wird rückhaltlos aufgeklärt. Wirtschaftsfürsten und die Politikerriege ist unfähig einen durchgeknallten russischen Tyrannen zu stoppen. Und das Fußvolk macht sich Sorgen, wie es wohl durch den nächsten Winter kommt. Hauptsache der eigene Zögling hat gute Schulnoten und besucht das Gymnasium. Hauptsache die Leistung stimmt.
Mein Sohn (11) brachte heute ein Buch aus der Buchhandlung mit nach Hause. Das Vorwort endet mit den klugen Worten: Merke dir immer: Wie du dein Geld verdienst, ist wichtiger als wie viel Geld du verdienst ....
Die Wissenschaft ist schon lang viel weiter. Natürlich wissen wir: Höchstleistung entsteht nicht durch hohe Leistungsanforderung. Höchstleistung entsteht durch Motivation. Das gilt im Sport, das gilt in der Wissenschaft und das gilt in Kunst. Es gilt auf allen Lebensfeldern. Mit Geburt gelten 98% aller Kinder als hochbegabt. Nach der Schule sind es gerade noch 2%. Es ist äußerst fraglich, ob mangelnde Leistungsanforderung zu diesem Effekt führt. Die Erfahrungen zeigen nämlich das Gegenteil: Gras wächst nicht schneller, wenn man möglichst kräftig daran zieht.
Jeder biologische Organismus hat ganz individuelle Wachstumspotentiale. Je komplexer der Organismus, desto vielfältiger sind diese Potentiale. Die Potentiale entwickeln sich am besten in förderlicher Umgebung. Mehr Druck, mehr Prüfungen und strenge Benotung ist keinesfalls ein Mittel zur Förderung der Potentiale. Das Gegenteil ist der Fall. Alle komplexen biologischen Organismen lernen von ihren Vorbildern. Ob Frau Bethke, wenn sie mal im Altersheim wohnt und all jene, die in die gleiche Kerbe hauen, von Menschen betreut werden wollen, die möglichst schnell möglichst viele Punkte von ihrer Checkliste abhaken können?
Die größte Lernleistung erbringt der biologische Organismus, wenn er sich frei seinem Entwicklungsstand der eigenen Erfahrungen aussetzen kann. Ein Lauftraining beschleunigt nicht das Erlernen des aufrechten Ganges. Ein kleinkindgerechtes Sprachtraining beschleunigt nicht das Erlernen der Muttersprache. Die beste Förderung ist eine lebendige Umgebung mit möglichst vielfältigen Vorbildern. Das Kind freut sich weniger am Lob durch Bezugspersonen sondern daran, dass es neue Fähigkeiten und Fertigkeiten an sich entdeckt. Dies gilt sowohl für den Spracherwerb als auch für später erworbene Fähigkeiten wie Rad fahren oder Klavier spielen. Der Effekt ist auch durch die Hirnforschung hinlänglich belegt. Insofern verwundert es etwas, dass zwar nach Leseförderung gerufen wird, aber nicht nach den Ursachen der Lesemüdigkeit gesucht wird.
Einem Herrn Putin oder einem Herrn Trump oder einem Herrn Lawrow, oder wie die Kollegen alle heißen mögen, hat es gewiss nicht an "Anreizen für die berufliche Bildung" oder einer "Benennung eines schlechten Leistungsniveaus" gefehlt. Im Gegenzug lässt sich sehr wohl belegen, dass eine wertschätzende, wohlwollende und sozialkompetente Umgebung geradezu eine Immunisierung gegen kurioses Gedankengut und ein Abgleiten in soziale Abgründe bewirken.
Schule geht besser, als mit Notendruck, Einheitslernstoff und weltfremden Lerninhalten die Zeit zu vergeuden. Das gilt übrigens sowohl für Schülerinnen und Schüler, als auch für Lehrerinnen und Lehrer.