14. November 2022

Die Lorelei - ein Gedicht.

Gedichte in der Schule auswendig zu lernen gehört in den Deutschunterricht wie der Apfel zum Pferd. "Das haben wir schon immer gemacht." - "Das hat uns auch nicht geschadet." - "Die Kinder müssen deutsches Kulturgut lernen." - "Steht im Lehrplan" ... - die Argumente sind so abgedroschen wie sie alt und unbrauchbar sind. Wenn wir Kindern in der Schule all das zumuten würden, was schon vor hundert Jahren gelehrt wurde und zusätzlich das, was heute aktuell ist, müsste die Schulzeit mindestens doppelt so lang sein. Ob nun Gedichte tatsächlich ein Kulturgut sind oder nicht, das will ich gar nicht beurteilen. Wir können aber annehmen, dass ein Kind, was Interesse an Gedichten und deutschem Kulturgut hat, entweder in Bibliotheken oder an anderen Orten wissenswertes findet, um sich auf diesem Felde weiteres Wissen anzueignen. Es würde zum Beispiel genügen, wenn im Unterricht ein Gedicht gelesen und durchgesprochen würde.

Nun steht aber auswendig lernen von Gedichten auf dem Lehrplan. Also wird das auch durchgezogen. Vermutlich gibt es auch Empfehlungen. In der 6. Klasse wird Die Lorelei von Heinrich Heine gelernt.

Die Lorelei

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe
Er schaut nur hinauf in die Höh´.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei getan.

Heinrich Heine  (1797-1856)

Ich kann es den Schülern nicht verdenken, dass sie Fragen an die Sinnhaftigkeit dieses Unterrichtsstoffes haben. Selbst nach längerem Nachdenken finde ich keinen Sinn. Erzwungenes auswendig lernen ist eine Qual und fördert vor allem den Wiederwillen gegen Gedichte und auswendig lernen. Das gelernte wird so schnell wie möglich wieder vergessen. Es ist also einmal mehr eine Anstrengung, die wir den Kindern aufbürden und abfordern nur für eine Notengebung.

Es stellen sich weitere Fragen. Weshalb wird gerade dieses Gedicht abgefordert? Der Inhalt ist mehr als zweifelhaft. Im Zentrum des Gedichtes sitzet "die schönste Jungfrau ... wunderbar, ihr goldnes Geschmeide blitzet, sie kämmt ihr goldenes Haar". Es ist Deutschunterricht. Wohlgemerkt. Kein Kunstunterricht, kein Biologieunterricht. Das Gedicht stammt aus dem Buch der Lieder von 1827. Das genaue Geburtsdatum des Dichters ist unbekannt. Es war die Zeit der französischen Revolution (1789 - 1799). Pferdeeisenbahnen wurden für Güterverkehr und ersten Personenverkehr eingesetzt. Man darf Heines Leben durchaus als turbulent und unstet umschreiben. Er wurde in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren, stand Burschenschaften nahe, war zeitweise Mitglied einer Freimaurerloge und ließ sich protestantisch taufen, um bessere Karrierechancen als Jurist zu haben. Sein Vorhaben als Rechtsanwalt erfolgreich zu werden scheiterte aber an seiner Herkunft. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung seines ersten Gedichtbandes. Heine war zu der Zeit noch nicht verheiratet und verkehrte in Bordellen. Heine wurde bis 1844 von seinem wohlhabenden Onkel Salomon Heine finanziell gefödert, obwohl dieser in seinem literarischen Schaffen keinen besonderen Wert erkannte.

Das Frauenwahlrecht wurde in Deutschland 1918 eingeführt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts galten Frauen als unselbständig und brauchten immer einen männlichen Vormund durch Vater, Bruder oder Ehemann. In diesem Kontext sitzet nun die schönste Jungfrau in Heines Gedicht.

Die Loreley selbst ist ein Schieferfelsen, der in einer Rheinbiegung zwischen Bingen und Koblenz aufragt. Die Rheinbiegung beim Loreleyfelsen gilt auch heute noch als einer der gefährlichsten Orte in der Flussschifffahrt. Clemens Brentano bringt erstmals den Ort Loreley dichterisch mit einer Person zusammen. Berühmtheit erlangte Heines Gedicht hauptsächlich durch Vertonungen, angefangen mit der Vertonung durch Friedrich Silcher (1837). Die Textinterpretation im geschichtlichen Kontext dürfte Schüler der 6. Klasse klar überfordern. Es bleibt also zunächst ein Wort- und Sinnverständnis aus heutiger Sicht.

Dabei fallen Schülern sehr schnell Rechtschreib- und Grammatikfehler auf. Und da tut sich der erste Graben des Unsinns auf. Es ist ja schon mühevoll genug, in die jungen Köpfe Rechtschreib- und Grammatikregeln hinein zu bringen. Jetzt werden sie mit künstlerischem Grammatikunfug durcheinander gebracht. Man muss ihnen etwas von dichterischer und künstlersicher Freiheit erzählen und zu Recht wünschen sie sich für ihre Diktate und Aufsätze ebensolche Freiheiten. Damit hätten wir ja einen Sinn erkannt. Wir könnten den jungen Menschen Freiheiten in Grammatik und Rechtschreibung ... - lassen wir das.

Schiffer und Schiffe sind den jungen Menschen mehr oder weniger bekannt. Aber wie ist das nun mit der Hauptperson in dem Gedicht, mit der Jungfrau, die hier den Namen eines Felsens bekommt? Glücklicherweise wurde ja den meisten Schülern in der Schule bis zum 6. Schuljahr ausgetrieben Fragen zu stellen. Ein Deutschlehrer alter Schule kann eine solche Frage auch einfach mit einem "das ist jetzt nicht das Thema" abhaken. Aber ist es nicht gerade im Deutschunterricht ratsam Begriffe kennen zu lernen, den Wortschatz zu erweitern, Bedeutungen von Worten zu erforschen?

Wir müssen uns also doch mit der Zentralfigur des Gedichtes befassen.

Es gibt einige Bilder, die verschiedene Künstler zur und von der Loreley erstellt haben. Wir dürfen durchaus annehmen, dass dem etwa knapp 30jährigen Heine solche Bilder vorschwebten bei der Erstellung des Gedichtes. Die sogenannte Kunst war ja schon immer ein Reich, in dem es gewisse Freiheiten und gewisse Interpretationsspielräume gab. Viele Höhlenmalereien zeigen pornographische Szenen. Heutzutage ist es wichtig Aufsehen zu erregen, wenn man denn Aufsehen braucht und Aufsehen haben will. Das dürfte vor knapp 200 Jahren nicht viel anders gewesen sein. Allerdings gab es damals noch kein Social Media, kein Internet und kein Fernsehen. Die Aufmerksamkeit musste also auf anderem Wege erreicht werden. Wie wäre es zum Beispiel damit eine Jungfrau mit goldenem Geschmeide auf einen Berg zu setzen und sich die goldenen Haare kämmen zu lassen? Mitte des 19. Jahrhunderts gab es nicht nur Jungfrauen. Es gab auch noch Jünglinge. Die sind ein wenig in Vergessenheit geraten in den letzten 200 Jahren.

Aber was bitteschön ist eigentlich eine Jungfrau? Den Lehrer oder die Lehrerin gefragt, wird er oder sie vermutlich antworten "das ist eine junge Frau" - was natürlich gelogen ist. Denn sonst würde in dem Gedicht ja stehen, dass da oben auf dem Berg eine junge Frau sitzt. Lassen wir also den Lehrer die Schüler anlügen? Oder lassen wir ihn die Wahrheit erzählen? Dann wird es nämlich komplizierter.

Per aktueller Definition ist eine Jungfrau eine Frau, die noch keinen Sex mit einem Mann hatte. Aber was für einen Sex jetzt? Auch wenn die Definition umstritten ist. Die Wikipedia meint: Als Jungfrau wird eine Person bezeichnet, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. Der Artikel ist aber etwas länger und auch nicht wirklich vollständig, wie die Literaturhinweise zeigen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Fragen wirklich im Deutschunterricht behandelt werden.

Offen bleibt damit auch die Frage, was so ein Gedicht im Deutschunterricht zu suchen hat. Insbesondere wenn die Schüler ein Alter haben, in dem der gesamte Fragenkomplex um die Jungfrau doch noch sehr indifferent ist. Aus der naiven Kindlichkeit sind sie herausgewachsen und eine erwachsene Sicht fehlt ihnen noch.

Mein Vorschlag hierzu war, solchen Mist einfach aus dem Lehrplan zu fegen. Der Lehrplan ist eh viel zu voll. Schüler und Lehrer beklagen sich, dass sie zu viel lernen müssen. Dann müssen sie grammatikalisch und syntaktisch falsches Zeug lernen und dann wird noch ein sexistisches Thema aufgeworfen.

@Liebero fragte hierzu auf Mastodon: Du sprachst von einem sexistischen Gedicht. Es ist also sexistisch, weil das Wort Jungfrau vorkommt?

Nun ... offenbar gibt es doch ein Bedürfnis so ein Gedicht im Unterricht zu behandeln. Was weitere Fragen aufwirft.

Was wollen wir unterrichten? Wen wollen wir unterrichten? Wie geht unterrichten? - Ganz praktisch stellen wir nicht nur bei diesem Gedicht fest: manchen Kindern fällt ein bestimmter Text leichter auswendig zu lernen als ein anderer. Nun maßen wir uns an zu beurteilen, was für Kinder gut ist und was nicht, was schädlich ist und was nicht. Und bei dieser Frage geraten wir sehr schnell auf dünnes Eis. Körperstrafen wurden in Deutschland erst vor 22 Jahren verboten. Bis in die Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts waren autoritäre Erziehungsmethoden sowohl im Elternhaus als auch in der Schule vollkommen normal, Prügelstrafen eingeschlossen. Fast niemand ist auf die Idee gekommen, dass autoritäres Verhalten der Kindesentwicklung nicht dienlich ist. Die meisten Menschen waren der Ansicht, dass das Gegenteil der Fall ist und körperliche Bestrafung der Entwicklung dienlich ist. Aus heutiger Sicht muss man zugeben: viele wussten es nicht besser.

Erwachsene maßen sich an darüber zu urteilen, was gut ist für Kinder und was nicht. Das ist das eigentliche Dilemma am heutigen, immer noch autoritär geprägten Schulsystem. Schule von oben herab.

Ich habe dazu einen Vorschlag. Wenn wir nicht wissen, ob ein Unterrichtsstoff schädlich, überflüssig oder langweilig ist, dann lassen wir ihn doch einfach weg. Wenn wir im Zweifel sind, ob Kinder zu verprügeln schädlich ist oder nicht, dann lassen wir es doch einfach sein. Es ist ja nicht so, dass es keine interessanten Dinge gibt, die wir unterrichten könnten. Und wir müssen zugeben: wir können es nicht beurteilen, was ein Gedichtstext über eine Jungfrau in Kinderseelen anstellt. Wir wissen es nicht. Es gibt keinen Grund dafür, dass Erwachsene darüber bestimmen was Kinder lernen müssen. Es gibt nicht nur keinen vernünftigen Grund hierfür, es gibt überhaupt keinen Grund.

Zur aktuellen Frage, ob das Gedicht denn geeignet ist für die Klasse 6 habe ich noch folgende Frage: würdet ihr dieses Gedicht mit Schülerinnen und Schülern der Klasse 6 schauspielerisch in Szene setzen? Und ich meine diese Frage wirklich ernst. Die Gehirne der Kinder sind noch nicht fertig. Wenn wir sie mit Worten und Szenen traktieren, die sie nicht wirklich verarbeiten können, nicht verstehen, dann wissen wir nicht, wie sich ihre Gefühle, ihre Gedanken ausbilden. Kinder haben ein sehr genaues Gespür dafür, was ihnen gut tut und was nicht. Diesem Gespür können wir vertrauen.