20. Februar 2022
Brauchen wir einen "Erziehungsführerschein"? Gudrun Halbrock im Gespräch
Das Interview (Bezahlschranke) in der Zeit ist vom September 2021.
Interviews haben ja diese Faszination von ungeprüfter Subjektivität - so auch dieses. Die provokante Überschrift des Interviews lautet "Sehr viele Eltern haben keine Ahnung, was Kinder benötigen", was natürlich viele Kommentatoren herausfordert. Frau Halbrock spricht aber zum einen aus eigener Lebenserfahrung, einem späten Studium, sehr viel Praxiswissen und einiger Reflektion. Vielleicht ist da ja doch etwas dran. Ich würde das Interview nicht kommentieren, wenn es sich nicht in vielen Punkten mit meinen Erkenntnissen, Erfahrungen und Überzeugungen decken würde.
Frau Halbrock selbst hat sich dem lebenslangen Lernen verschrieben, hat aus der eigenen Erziehung etwas gelernt, hat versucht diese Fehler zu überwinden und setzt alle ihre Lebenskraft für eine bessere Welt für Kinder und Eltern ein.
Nicht so viel Glück hatte sie offenbar mit der Auswahl des Vaters ihres Kindes. Einerseits. Andererseits hat sie dadurch offenbar auch wieder Kraft gewonnen. Bei weniger subjektiver Sicht zeigt sich in der Biografie von Frau Halbrock, dass sich auch aus einem Widerstandsgeist Energie gewinnen lässt.
Frau Halbrock ist das, was ich eine Überzeugungstäterin nennen würde. Und die haben wir zu wenig.
Nun - woher kommt diese Verunsicherung einer ganzen Gesellschaft?
Meine erwachsenen Patienten leiden unter Ängsten, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen, die zu einem großen Teil das Ergebnis falscher Erziehung sind. Etwa 90 Prozent bräuchten keine Psychotherapie, wenn sie in ihrer Familie eine bessere Kindheit gehabt hätten.
Wir befinden uns mittlerweile in der 3. Nachkriegsgeneration. Die jetzigen Eltern haben möglicherweise keine körperliche Gewalt mehr erleben müssen. Sie sind aber auf jeden Fall zum großen Teil in einer Zeit der Verunsicherung aufgewachsen. Erkenntnisse dazu, wie sich Kinder gut entwickeln gibt es zwar schon sehr viel länger. Eine breite Basis für eine Sicht vom Kinde aus gibt es aber immer noch nicht. Kinder werden immer noch mehr und mehr in Kindertagesstätten verdingt. Die Frau als Steuerzahlerin und Wirtschaftskraft ist viel wichtiger geworden als eine gesunde Sozialisation unserer Kinder. Männer haben die Domäne der befriedigenden Sozialarbeit noch zu wenig für sich entdeckt. Und so sind Kinder nach wie vor und immer mehr Spielball pädagogischer Konzepte, die nur einem Ziel dienen: sie wirtschaftlich verwertbar zu machen und dies mit möglichst geringem Aufwand. Menschen müssen in erster Linie Befehle ausführen können und Anforderungen genügen. Als Kleinkinder, als Kinder, als Schüler usw. Das führt wiederum zu einer Unselbständigkeit und Verantwortungslosigkeit. Eltern bekommen sogenannte Wunschkinder. Sind diese dann geboren, wird die eigene Ratlosigkeit sehr schnell an Experten deligiert. Dabei gehört das Werden und Vergehen zum Natürlichsten auf dieser Welt. Verantwortung übernehmen hieße: ich werde selbst zum Experten. Alle Weisheit steht uns uneingeschränkt zur Verfügung! Das heißt im Umkehrschluss: alle Verwirrungen und Verirrungen behindern den Zugang zur Weisheit. Wenn ich mich nun in einer gewissen Instablase befinde, werde ich den Influenzern dort folgen, idealerweise ohne Kritik oder Begutachtung. Es gehört natürlich auch eine Portion Glück dazu, sich von der ganzen Verunsicherung frei zu machen und einen eigenen Überzeugungsweg zu finden. So trifft Frau Halbrocks These durchaus ins Schwarze: sehr viele Eltern haben keine Ahnung, was Kinder benötigen!
Sie haben Gewalt, Degradierung und Missachtung erlebt. Manchen wurde als Kind gesagt: Du bist ein Dummerchen. Und das hat sich so eingeprägt, dass sie es selbst glauben, sich nichts zutrauen und unter mangelndem Selbstbewusstsein leiden.
In dieser Phase der Verunsicherung neigen viele Eltern und Lehrer dann dazu, ihre Überlegenheit gegenüber dem Kind einzusetzen und das Kind entsprechend zu bestrafen oder zu maßregeln. Zugegeben, heute weniger mit dem Rohrstock. Das Ergebnis ist allerdings vergleichbar. Das Kind wird geprägt.
Ja, und diese frühkindliche Prägung ist entscheidend. Aber ich will doch einen Schritt weiter gehen. Denn die Schule bekommt eben diese Kinder und keine anderen zur weiteren Ausbildung. Und natürlich kann sich Schule auf den Standpunkt stellen: wir sind doch nicht für die Erziehung zuständig. Oder: wenn wir nur schlecht geprägte Kinder bekommen, können wir unseren Auftrag eben auch nur schlecht ausführen. Ich sage an dieser Stelle: Nein! Denn Schule geht besser! Schule muss sich selbst zum Auftrag machen, den Kindern Vertrauen und Zuversicht zu geben - auch den Kindern, die dies im Elternhaus nicht gelernt haben. Frau Halbrock hat sich auch losgesagt von ihrere Prägung und ist ihren eigenen Weg gegangen. Dies muss jedem Kind ermöglichkt werden. An jedem Tag.
Das Wissen hierfür ist vorhanden. Frau Halbrock sagt das so:
Das ist es ja: Diese Dinge sind alle schon lange bekannt. Aber den Eltern wird dieses Wissen nicht vermittelt.
Da wäre die Institution Schule doch sehr gefragt. Denn in der Institution muss es ja weniger auf die Meinung oder das Unwissen des Einzelnen ankommen. Es müsste doch möglich sein, den Pädagogen und Lehrkräften dieses Wissen zu vermitteln. Wozu machen sie denn eine Ausbildung? Ein Studium? Ein Staatsexamen? Deswegen bin ich für eine Umkrempelung des Schulwesens. Für Jamilas Schuldorf. Für eine Bewertung von Schulen durch Schüler. Und noch vieles mehr.
Eine Kommentatorin schreibt:
Wer eine so lange Erfahrung hat und mit 95 immer noch so fit ist, vor dem habe ich großen Respekt. Ich bin seit 25 Jahren Lehrerin und werde diesen Artikel noch einmal genau studieren, es gibt hier wertvolle Tipps, hinter denen jahrzehntelange Erfahrung steht. Cool.