5. Februar 2022
Notengebung in der Praxis - so sinnvoll wie eine Lotterie
Über Notengebung wird ja immer wieder gern und breit diskutiert. Von Stammtischen bis in Vorstandsetagen, von Lehrern, Eltern und gerne von Tanten, Onkeln, Opas und Omas. Bei der Notengebung gibt es nur Experten. Aber ... gibt es auch Fakten dazu?
Als erstes schauen wir mal in Zeugnisse. Ganz konkret. Zwei Schüler der Klasse 5. Beide haben bei der Matheolympiade gewonnen. Einmal einen ersten, einmal einen dritten Platz - unter über 100 Schülern des Jahrganges. Die Note im Zeugnis: eine zwei. Ist diese zwei jetzt gerecht oder ungerecht? Ich will das Ergebnis vorweg nehmen: sie ist sinnlos. Auf der ganzen Linie. Mit der zwei wurde keinesfalls die Mathematikkenntnis bewertet oder - wie von den Notenbefürwortern gerne ins Feld geführt: "die Leistung". Es wurde ganz schlicht die Fähigkeit zur Konformität bewertet. Es wird also bewertet, ob sich ein Schüler in das gerade vom Lehrer vorgesetzte Prüfungsschema quetschen lässt - oder eben nicht. Mal die Hausaufgaben schludrig gemacht, weil einfach keine Lust, führt zur Notenabwertung, aber eben nicht dazu die Leistung zu bewerten. Also: nach der Auslegung der Schule und deren Maßstäbe lässt sich die zwei hervorragend begründen. Würden jedoch weniger Routineaufgaben in Arbeiten abgefragt sondern mehr eigenständiges Denken, gäbe es eine andere Note.
Verlierer werden an Schulen gemacht.
Ich hab mir extra ein Probeabo gemacht, um diesen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 5.2.2022 zu lesen: Soziale Gerechtigkeit: Einmal unten, immer unten. (Bezahlschranke).
In Deutschland wächst heute jedes fünfte Kind in relativer Armut auf. ... Das betraf 2020 nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung 2,8 Millionen Kinder. ... Seit den 80er-Jahren sind die Aufstiegschancen aus den unteren Einkommensklassen kontinuierlich gesunken, ist im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2021 zu lesen. Die Wahrscheinlichkeit für arme Menschen, auch die kommenden fünf Jahre der untersten Schicht anzugehören, ist in den vergangenen 40 Jahren von 40 auf 70 Prozent gestiegen. Soziale Mobilität? Ein leeres Versprechen. Aus armen Kindern werden arme Erwachsene und oft auch arme Eltern, die wieder arme Kinder bekommen.
Aber was hat das jetzt mit der Notengebung zu tun? Nun, Zeugnisnoten stigmatisieren. Und wer permanent zuhause unter Stress lebt, in beengten Verhältnissen, die Sorgen und Nöte der Eltern erlebt, wird kaum den Mumm haben gute Noten zu schreiben. Das heißt: schon das junge Kind fühlt sich als Versager. Da helfen auch keine beruhigenden oder gut gemeinten Worte. Das wird dem Kind sozusagen aufgeprägt. Wie einer Münze ihr Wert aufgeprägt wird, so steht dann auf dem geprägten Wesen Kind der Wert: Versager. Und dies, obwohl es selbst nichts, also wirklich auch absolut nichts dafür kann! Es wird sich ein Leben lang als Versager fühlen. Wir müssen diesen Vorgang der Prägung erkennen und sehr ernst nehmen. Und wie kann man den Teufelskreis durchbrechen? Es ist so ernüchternd wie einfach: die Abschaffung der Noten sind eines der wichtigsten Marksteine auf diesem Weg. Das Kind ist genauso viel wert wie alle anderen Kinder. Es leistet möglicherweise sogar noch mehr als andere Kinder.
Diese Leistung kann durch individuelle Beurteilungen zum Ausdruck gebracht werden. Wenn das Kind in der Schule zunächst einmal stressbefreit lernen kann, so wird es einen Lernraum als wohltuend empfinden. Versteht ihr? Zuhause: Stress, gestresste Eltern, die sich möglicherweise anbrüllen. In der Schule: Anerkennung für jede Leistung. Jede. Auch ein soziales Engagement wird anerkannt, auch wenn jemand Vertrauen zu einem anderen Schüler entwickelt. Das ist dasjenige, was den geschwächten Menschen stärkt. Die Hirnforschung weiß genau dieses: mit der Anerkennung werden die wichtigen Botenstoffe ausgeschüttet, die wiederum für den nächsten Lernschritt wichtig sind.
In Teamarbeit hat es eine zwei gegeben im Zeugnis. Kommentar des Kindes: "Sinnlos! Wie soll denn Teamarbeit bewertet werden - es gibt bei uns keine Teamarbeit!"
Eine weitere lustige Note gefällig? In Musik hat es eine eins gegeben. Toll, so will man meinen, ist doch super. Aber warum hat es jetzt diese eins gegeben? Nicht wegen der super Kenntnissen oder Leistungen in Musik, sondern weil das Niveau der anderen Schüler entsprechend niedrig ist. Wir haben keine Musikgenies. Wir gehen seit dem Kindergarten in die Musikschule. Zunächst in den Klavierunterricht, ein Kind wechselt später zur Trompete. Geübt wird kaum bis wenig. Das reicht für eine eins! - Eine eins für die Mülltonne sozusagen.
So können wir Note für Note durchgehen. Die drei in Englisch? Da hat die Rechtschreibung in einer Arbeit versagt. Ansonsten schauen wir uns englische Videos an, lesen englische Anleitungen für Minecraft, führen spontan ein englisches Theaterstück auf und ich bin sicher, dass beide Kinder in einer englischsprachigen Umgebung die Sprache sehr schnell adaptieren würden. Es gab eine drei.
Noch eine? In Sport gab es eine zwei. Beide Kinder sind fit, fahren gerne Fahrrad, schwimmen gut und laufen gut. Einer macht Salto und ist in Mannschaftsspielen ein gefragter Mitspieler, klettert gut und hat allgemein eine sehr gute Körperbeherrschung. Aber sie lassen sich nicht gut dressieren, sind also nicht so gut darin durch Feuerreifen zu springen oder hundertmal in der Minute über ein Seil zu springen. Eine Sportnote ist eh so sinnvoll wie eine Kuh nach ihrer Fähigkeit zum Seiltanz zu bewerten. Denn die körperlichen Voraussetzungen eines jeden Kindes sind schon sehr sehr unterschiedlich. Und natürlich dienen Noten dazu - entschuldigung für den Kalauer - die Leistung zu bewerten. Also muss ein körperlich schwächeres Kind nach den Leistungen des körperlich stärksten und geschicktesten Kindes bewertet werden. Wie schwachsinnig ist das denn?
Philosphie: eins. Warum? Super Lehrer.
Ich höre jetzt mal auf, denn man könnte dies mit jeder Note machen.
Fazit: mit der Notengebung disqualifiziert sich vor allem die Schule und die Lehrkräfte. Notengebung bedeutet: die Schule hat mit ihrer Pädagogik versagt. Eine schlechte Note bedeutet: der Lehrer hat es nicht geschafft mit dem Schüler eine Beziehung aufzubauen, die ihm hilft den Prüfungsstoff sehr gut abzuliefern. Generell ist eh die Frage, inwieweit es sinnvoll ist Menschen über einen Kamm zu scheren. Auch diese Frage wird ja sehr kontrovers diskutiert.
Hier gibt es eine interessante Diskussion zu Schulnoten (yt). Es kommen vor allem Jamila Tressel und Kai Schmidt zu Wort. Kai Schmidt: "Ich bin ein großer Fan vom Notensystem. Eine direkte Rückmeldung über Leistung und Minderleistung sind ganz ganz wichtig ...". Jamila Tressel: "Ich bin kein Fan vom Notensystem. ... Es ist ein Armutszeugnis an Schule und Gesellschaft, dass es nicht geschafft wird eine Motivation herzustellen ohne die Kinder einem gewissen Druck auszusetzen. ... Kinder wollen alles wissen - die fragen Dir Löcher in den Bauch - die haben eine Neugierde und haben eine intrinsische Motivation zu lernen."
Apropos Noten: Die werden in vielen Unternehmen immer weniger wichtig. Wer sich zum Beispiel bei mir bewirbt, kann sein Zeugnis zu Hause lassen ... (Jürgen Erbeldinger, Geschäftsführer)
Gute Noten sind kein Makel, aber grundsätzlich verlieren Noten und damit Schulzeugnisse ihre Aussagekraft. (Volker Kefer, Vorstand Infrastruktur und Dienstleistungen, Deutsche Bahn AG)
Beide Zitate aus: "Wie wir Schule machen"
"Noten fokusieren unsere jungen Menschen auf Vergleich und Konkurrenz und das ist das, was wir überwinden müssen für die große Transformation der Gesellschaft." (Margret Rasfeld, ehem. Schulleiterin und Schulgünderin, Gründerin von Schule im Aufbruch yt)
Nachtrag zu diesem Artikel ...
Ich lese gerade die örtliche Anzeigenwochenzeitung. Da wird als große Errungenschaft von der Bildungsministerin Frau Simone Oldenburg gefeiert, dass es jetzt ein Zeugnissorgentelefon in Mecklenburg gibt. Halt! Wartet! Ihr lest richtig! Frau Oldenburg erklärt wörtlich in der Zeitung: "Kinder und Jugendliche, die sich wegen ihrer Leistung sorgen, finden dort ein offenes Ohr, aber auch Eltern, die einen Rat brauchen, um ihre Kinder in einer problematischen Situation gut zu unterstützen. Ich freue mich ganz besonders, dass wir 36 zusätzliche Stellen für den ZDS schaffen konnten. Wir alle wissen, dass schulpsychologische Beratung für Schüler und Schülerinnen, Lehrkräfte und Eltern, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der nun schon so lange andauernden Pandemie, wichtiger denn je ist." - Puuuh - Nur mal angenommen ... ich würde da jetzt anrufen und erzählen, dass wir Schwierigkeiten mit der Schule haben ... glaubt ihr, die würden uns helfen? - Das Telefon ist zwei Wochen geschaltet.
Angeblich wegen schlechter Noten 15-Jähriger erschießt Eltern und Bruder
In Spanien ist ein Familienstreit tödlich eskaliert: Ein Teenager erschoss Mutter, Vater und den zehnjährigen Bruder. Der mutmaßliche Täter harrte drei Tage mit den Leichen in einem Haus aus. Jetzt hat er gestanden.