2. April 2022

Die Größe des Problems oder die Größe des Eisbergs

Es ist immer wieder das gleiche Thema: gibt es ein Problem an deutschen Schulen oder gibt es kein Problem? Sind das Problem die Kinder? Sind das Problem die Eltern? Sind es nur Einzelfälle? Sind es nur Kinder mit Vorschädigungen oder werden Schädigungen an den Schulen produziert?

Eines voraus: es gibt nicht eine richtige Antwort.

Vor etwa drei Jahren lernte ich das Wort Systemsprenger. Ich kannte das Wort vorher noch nicht. Das Wort bezeichnet Schüler, die gelegentlich oder häufig außer Rand und Band geraten, so dass keine reguläre Maßnahme sie mehr beruhigen kann. Ich lernte nicht nur das Wort kennen, ich lernte Eltern kennen, ich lernte Kinder kennen. Ich lernte Lehrer kennen, die von dem Phänomen betroffen waren. Und ich habe schnell überlegt: es müsste doch etwas geben, was mit dem Phänomen umgehen kann. Ich habe weinende und verzweifelte Eltern erlebt, die von Ämter zu Behörden geschickt wurden. Die Ämter haben gesagt, sie seien nicht zuständig und können nichts tun. Die Behörden haben die Eltern wieder zurück geschickt: es gibt keine Möglichkeit. Es wurde über Zwangsunterbringung gesprochen und Kindeswohlgefährdung. Es wurde das gesamte Gefahrengeschütz der Behörden aufgefahren. Bis dann die zuständige Behördenmitarbeiterin gewechselt hat. Und plötzlich ging alles ganz schnell. Es gab dann doch eine Integrationshilfe. - Was aber das grundsätzliche Problem nicht gelöst hat. Ich habe zur Schullehrerin gesagt: machen Sie doch mal ein Deeskalationstraining mit der Klasse. Zugegeben: ich war damals sehr naiv. Ich war der Ansicht: so ein Schul-Behörden-Ämterapparat aus vielen Ämtern und Behörden und Zuständigen hat doch sicher entsprechende Werkzeuge im Werkzeugkasten, um mit alltäglichen Situationen im Klassenzimmer umzugehen.

»Wir haben keine Mittel.«

Das war die Antwort der Lehrerin. Ehrlich. Ihr könnt es glauben oder nicht. Nach dem Gespräch ging ich sehr betroffen nach Hause. Da gibt es ein staatliches System, Schule genannt, da treten dann Phänomene auf, und genau mit diesen Phänomenen ist das System dann überfordert. Die Sache hat mir dann keine Ruhe gelassen. Ich wollte wissen, wieviel Geld denn gebraucht würde. Das habe ich raus bekommen. Wir haben auch raus bekommen, wer so etwas macht und hatten ein Vorgespräch in der Schule. Schullehrerin, Referendarin, zwei Experten und ich. Es war ein sehr interessantes Gespräch. Die Experten bestätigten, dass die beschriebenen Phänomene keine Einzelfälle sind. Sie bestätigten sehr viel mehr: dass es nämlich ein Phänomen ist, was in der Breite existiert. Es ist also bei weitem nicht so, dass nur die Systemsprenger auffällig sind, es gibt noch sehr viel mehr unentdeckte Auffälligkeiten. Quer durch alle Gesellschaftsschichten. Und sie sprachen durchaus davon, dass entsprechende Maßnahmen sinnvoll sind. Sinnvoll aus mehrfacher Hinsicht. Wenn das Systemsprengerphänomen unter den Tisch gekehrt oder per Repressalien oder Isolation aus dem Schulbetrieb radiert wird, wird es an anderer Stelle (Schulabbruch, Kriminalität usw.) wieder zum Vorschein kommen. Und dann werden die Folgen deutlich teurer, als wenn man die Auffälligkeiten schon frühzeitig ernst nimmt. Wegen der Coronabeschränkungen musste die Maßnahme dann abgesagt werden.

Von Lehrerseite sind schnell die zwei oder drei auffälligsten Kinder benannt. Wenn man solche Kinder persönlich kennen lernt, stellt man fest: ja, sie sind individuell, teilweise originell, teilweise intelligent, aber ansonsten vollkommen in Ordnung. Sie brauchen etwas mehr Aufmerksamkeit, die sie dankbar annehmen, teilweise sogar provozieren.

Wenn man sich nun so eine Schulklasse anschaut, dann ist sie heterogen aus Individuen zusammengesetzt. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass die sogenannten Systemsprenger so ganz alleine da stehen. Es ist die Spitze des Eisbergs. Es ist also der Teil des Eisberges, der in Erscheinung tritt, der sichtbar ist.

Wir wissen noch mehr. Wenn die sogenannten Systemsprenger in eine andere Umgebung kommen, also in eine Umgebung, in der sie wahrgenommen werden, in der sie akzeptiert werden in ihrer Eigenheit, verhalten sie sich wie ganz normale Individuen. Sie verlieren wohl ihre Eigenheiten nicht. Mehr noch: sie können ihre Eigenheiten kultivieren - aus eigener Motivation. Wir können also durchaus davon ausgehen, dass jedes Kind ein potentieller Systemsprenger ist - je nachdem in welcher Umgebung es sich befindet, je nachdem wie passend die Umgebung für das jeweilige Individuum ist und wo die Grenzen der Auffälligkeiten gesteckt werden.

Ich möchte daher diejenigen Stimmen unterstützen, die sagen, dass sogenannte auffällige Kinder eine Chance sind. Sowohl für die anderen Individuen als auch für die ganze Gesellschaft. Zum einen sind sie Indikatoren. Sie zeigen an: da stimmt etwas nicht mit der Struktur, mit der Gesellschaft, mit dem Umfeld. Zum anderen können sie zur Heilung genau dieses kranken Systems aktiv beitragen. Wenn wir sie fragen: was brauchst du? Wo fehlt es dir? Was können wir für dich tun? usw. Das ist unsere große Chance.

Und, um die Eingangsfrage zu beantworten: es gibt ein massives strukturelles Problem an den meisten Schulen. Was wir sehen, ist die Spitze des Eisberges. Viele Eltern sind geneigt zu sagen: ich bin ja nicht betroffen, also ist alles gut! Viele Lehrer sagen: es sind ja nur wenige Kinder, also muss alles gut sein - außer den wenigen Kindern. Viele Schüler sagen: so schlecht ist die Schule dann auch wieder nicht. Was diese Mitläufereltern, Mitläuferlehrer und Mitläuferkinder sehr gerne übersehen ist, dass sie mit leiden. Der Mensch als das empathische Wesen leidet immer mit! Sowohl unter den suboptimalen Verhältnissen, als auch unter der Fehlbehandlung der Indikatorenindividuen.

Die Schulen, die Eltern, die Schüler, die Politik und die Behörden wären gut beraten das Phänomen ernst zu nehmen. Alle Studien sprechen hier eine eindeutige Sprache. Die OECD Bildungserhebung sowie die Erfahrungen aus Schulreformen, anderen Ländern, Berufsausfall bei Lehrkräften zeigen: der Eisberg ist groß! Was mich aber besonders betroffen macht, ist die Erkenntnis, dass relativ kleine Veränderungen eine große Wirksamkeit haben können. Nicht einmal diese kleinen Veränderungen werden angegangen.