3. Dezember 2024
Zielvereinbarungsgespräche
Laut Aussage des Klassenlehrers müssen Zielvereinbarungsgespräche geführt werden. Wenn wir so ein Wort wie "müssen" hören, so dürfen wir durchaus einmal nachfragen und nachdenken, was sich denn hinter so einer Idee verbirgt und wie es mit der Durchführung aussieht. Wir dürfen fragen: ist das sinnvoll?
Zunächst einmal glauben wir dem Klassenlehrer, dass in irgendeiner Verordnung drin steht, dass Zielvereinbarungsgespräche geführt werden müssen. Vielleicht ist es aber auch anders. Vielleicht ist es so, dass er diese Gespräche anbieten muss und die Teilnahme für Eltern und Schüler freiwillig ist? Wir lassen es mal so stehen und glauben ihm, dass es sein muss.
Zielvereinbarungsgespräche kommen aus der Wirtschaft. Dort wurden sie erfunden, um Mitarbeiter und Teams zu höheren und größeren Leistungen zu trimmen. Merke: es geht um Profit! Anders ausgedrückt: auf Mitarbeiterinnen soll sanfter Druck aufgebaut werden. Bei einem Verkäufer ist das klar in Umsatzzahlen messbar. Oder in Profitmargen, um zu verhindern, dass er über Rabatte künstlich seinen Umsatz in die Höhe treibt. Es kam dann irgendwann, vermutlich war es ein Psychologe, auf die Idee, solche Zielvereinbarungsgespräche auch mal in der Schule zu etablieren. Dort gibt es ja, so der Glaube vieler am Schulleben Beteiligter, ein ebenso eindeutiges Messinstrument: die Noten. Also da schauen wir doch mal, ob wir aus dem Schüler nicht doch noch eine bessere Note herauskitzeln, genauer gesagt erzwingen können. Stichwort: sanfter Druck. Den Eltern passt das ganz gut. Und dann sitzt da ein mehr oder weniger adultistischer Lehrer dem Schüler und einem oder zwei Elternteilen gegenüber und erzählt etwas über das ungenutzte Potential, und dass der Schüler sich ja nur mehr anstrengen muss und sich nicht so sehr ablenken lassen darf und dann bekommt er auch eine bessere Note.
Freunde. Was ich hier so salopp und etwas übertrieben daher schreibe ist kein Witz! Es ist bitterer Alltag an jeder Schule und bei jedem Schüler. Die meisten Schülerinnen zittern vor so einem Gespräch. Leider habe ich das selbst erlebt. Und nein, ich unterstelle keiner Lehrkraft bösen Willen. Aber hinter dem Argument "ein Hinweis, wie der Schüler besser lernen kann, kann doch nur nützlich sein!" steckt im Grunde der Rohrstock. Es ist purer Adultismus. Und gefährlich. Besonders für schwache Schüler. Vermutlich gibt es sogar Studien, die die Wirksamkeit solcher Zielvereinbarungsgespräche belegen sollen. Ich kann nur sagen: Vorsicht!
Wir haben es ja bei den Zielvereinbarungsgesprächen mit einem sogenannten Wirkmittel zu tun. Es ist ein Mittel, das eine Wirkung entfalten soll. Wir wissen aber, dass es keine Wirkmittel ohne Nebenwirkungen gibt. Deswegen wollen wir uns mal anschauen, was denn so die Nebenwirkungen sein könnten. Da können wir uns mal die Position der Beteiligten betrachten. Der Lehrer stellt dabei die Persönlichkeit dar, die das Wirkmittel steuert. Der Schüler ist derjenige, auf den das Wirkmittel gerichtet ist und die Eltern sind diejenigen, die das Wirkmittel absegnen und unterstützen sollen. An Nebenwirkungen denken die Erwachsenen nicht. Der Schüler möglicherweise schon. Wenn in so einem Zielvereinbarungsgespräch beispielsweise gesagt wird, dass der Schüler seine Hausaufgaben gründlicher machen soll, dann ist für den Schüler klar: es soll weniger Freizeit geben. Wenn ihm gesagt wird, dass er im Unterricht besser aufpassen soll, dann wird ihm gesagt, dass er falsch ist. Freunde ... bitte denkt auch einmal psychologisch! Schülerinnen, die es eh schwer haben in der Schule wird es noch schwerer gemacht. Diejenigen, die es leicht haben, stecken so ein Zielvereinbarungsgespräch eher weg oder können sogar noch etwas Positives daraus gewinnen. Das dürfte aber nur einen sehr geringen Teil der Schüler betreffen.
Wir müssen die Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung mit einbeziehen, wenn wir zum einen verstehen wollen, was bei solchen adultistischen Veranstaltungen geschieht. Und wir müssen diese Erkenntnisse einbeziehen, wenn wir überlegen wollen, wie es besser geht. Denn eines sollte allen Beteiligten klar sein: miteinander sprechen ist durchaus eine gute Idee.
Früher waren Hausbesuche des Lehrers üblich. Und wie John Hattie herausgefunden hat, entfalten die sogar eine positive Wirkung auf das Lernergebnis.
Drehen wir die Idee des klassischen Zielvereinbarungsgespräches doch einfach mal rum. Wie wäre es, wenn Schülerinnen und Schüler wirklich gehört werden? Wenn sie ernst genommen werden? Wenn die Schule so gestaltet wird, dass Schülerinnen und Schüler sich wohl fühlen und nicht einsam, gedemütigt und bedroht.
Ich muss hier etwas dazwischen schieben. Es gibt durchaus zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, die die klassische Form des Zielvereinbarungsgespräches in Frage stellen. Die tatsächlich versuchen mit dem Schüler in eine Beziehung zu treten. Und die die Leiden der Schüler ernst nehmen. Wir müssen uns aber auch klar machen, dass selbst der empathischste Lehrer in einem System aus Lehrplan und Prüfungen gefangen ist und kein Lehrer den Schulalltag so gestalten kann, dass jeder Schüler optimale Lernbedingungen vorfindet. Alle Bedingungen sind suboptimal. Die wenigsten Schülerinnen und Schüler haben in der Klassenstufe 8 (in der befinden wir uns gerade) ihre intrinsische Lernmotivation kultivieren können. Diese ist meist schon mehr oder weniger verkümmert oder verschüttet. Jeder Schüler kommt mit unterschiedlichen psychosozialen Voraussetzungen. Die Schule, die genau die optimale Umgebung für jeden Schüler anbietet gibt es noch nicht. Nur: so wie Schule im Moment ist, befinden wir uns Lichtjahre von diesem Zustand entfernt. Es würde ja schon genügen, wenn in allen Beteiligten die Idee von guter Schule leben würde.
Aber zurück zu den Zielvereinbarungsgesprächen. Wir hatten hier neulich ein Gespräch darüber. Ich habe den Jungs Mut gemacht, dass sie durchaus auch ihre Ideen und Wünsche äußern sollten. Sie werden das aber nicht tun. Sie werden einfach die halbe Stunde über sich ergehen lassen, dabei die Ohren so gut zuklappen wie möglich. Und danach weiter zur Schule gehen als wäre nichts gewesen. Sie wissen genau: sie würden nicht gehört werden, wenn sie Ideen äußern würden, wie sie besser lernen könnten.
So klug können Jugendliche sein! Sie wissen genau, was ihnen bekommt und was ihnen nicht bekommt. Sie wissen genau, dass das Unvermeidliche unvermeidlich ist.
Nun. Das ist schade. Denn das wäre ein einfach zu nutzendes Potential für alle Schülerinnen. Gespräche auf Augenhöhe. Ohne Adultismus. Ohne dass den Schülern gesagt wird: das, was ihr euch da wünscht, das geht nicht. Ihre Ideen müssten aufgenommen werden. Sie müssen sich erst einmal ernst genommen und gehört fühlen. Dabei darf es aber nicht bleiben. Zu sagen "ich werde das mit der Schulleiterin besprechen" reicht nicht. Sie müssen erleben, dass sich etwas ändert. Das wäre die Revolution. Die Erwachsenen. Die könnten lernen aus solchen Gesprächen. Denn Schule geht besser!